2012: Der gestrenge Stadtschreiber

„Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.“

Erasmus von Rotterdam 

Diese Geschichte geschah vor langer, langer Zeit.

Niemand weiß eigentlich, warum Weihnachtsgeschichten immer vor langer Zeit passieren müssen. Auch dieser Weihnachtsgeschichten-Autor erfindet immer nur Geschichten, die vor langer, langer Zeit waren. Dies wird sich nächstes Jahr ändern. Aber eben erst nächstes Jahr.

Die Geschichte hat vor langen, langen Jahren in einer kleinen Stadt am Rhein begonnen: in Schlettstadt.

 

Der Stadtschreiber aus Schlettstadt.

Wir schreiben das Jahr 1517.

In der freien Stadt Schlettstadt (heute Sélestat) hatte der Bürgermeister gerade einen Stadtschreiber eingestellt und er war sehr stolz darauf. Das kleine Städtchen war durch seine Händler reich geworden und mittlerweile hatte es auch einige Gelehrte angezogen.

Beatus Rhenanus - so nannte sich einer der Gelehrten - hatte eine Schule für Latein und Griechisch eröffnet. Für damalige Zeiten war das sehr unüblich, da bisher nur Kirchen Schulen hatten. Der Bürgermeister musste manchmal lachen: Beatus Rhenanus. Eigentlich war es der Beat, so nannten ihn damals alle. Aber auch Marketing spielte zu dieser Zeit bereits eine wichtige Rolle: Beatus Rhenanus klang gut, besser als Beat vom Rhein.

Auf jeden Fall, hatte er einen Schreiber eingestellt und dieser Schreiber war sicherlich genau der Richtige: ein rechtschaffener Mann, der sehr genau war. Er hatte nach den ersten Monaten Ordnung in die Schriftstücke der Stadt gebracht. Er arbeitete sehr hart. Von morgens bis abends saß er in der Amtsstube und durchforstete die vielen Papiere und manche Bücher, die die Stadt sogar besaß.

Spät Abends ging er zufrieden nach Hause, wo er dann mit seiner Frau noch eine Tasse Tee trank. Die Kinder waren schon lange im Bett. Er wollte es auch so. Er hatte eine klare Meinung, wie Kindererziehung geht: Disziplin, früh aufstehen, den Eltern und allen anderen Respektspersonen zu gehorchen. So war seine Welt: Ordnung, Ordnung und Ordnung. Er war von der Statur her ein großer, hagerer Mann und durch die viele Arbeit waren mittlerweile seine Augen von dunklen Rändern gekennzeichnet. Seine Backen waren ebenfalls eingefallen. Er wusste, er war auch dünner geworden (was allerdings niemand außer seiner Frau und er selber sah, da man damals weite Kleidung trug). Es war ihm recht. Er war immer schon ein Freund der Askese und der Selbstbeherrschung. Die Klosterregeln des Benedikts von Nursia, die Art wie Eremiten lebten und auch die asketische Formen des irischen Mönchtums, die damals noch sehr viel bekannter waren: dies alles war ihm immer als leuchtende Vorbilder vorgekommen.

Er hatte, da er Stadtschreiber war, über Beatus Rhenanus von Sokrates und von Platon gehört - dieser Beatus besaß solche Bücher. Er war zwar hoch erfreut, dass auch diese die Askese geprägt hatten.

Jedoch mochte er diese neue Bewegung nicht, die wir heute Renaissance nennen. Sie war neu und er mochte nichts Neues. So nahm er sich vor, mit sich selbst und seiner Umgebung, hart zu sein, damit er dieses Ideal realisieren konnte. Ehrlich gesagt, er wusste gar nicht mehr, warum er geheiratet hatte. Eigentlich wäre es ihm jetzt lieber, er könnte ganz alleine in Askese leben. Aber er hatte Disziplin und fügte sich seinem Schicksal.

Eines Tages bat ihn dann der Bürgermeister - dem mittlerweile durchaus bekannten - Beatus Rhenanus, einen Dienst zu erweisen. Dieser hatte einen großen, damals sehr bekannten Lehrer und Gelehrten, als Freund gewonnen und dieser lebte in Freiburg im Breisgau: Erasmus von Rotterdam. Er lebte neben dem noch existierenden Franziskanerkloster und der heute berühmte Balkon war damals sehr unscheinbar.

Auf jeden Fall bat ihn der Bürgermeister Korrespondenz und wichtige Dokumente, des Gelehrten Beatus Rhenanus, nach Freiburg zu bringen und Erasmus von Rotterdam auszuhändigen.

Der Schreiber fragte den Bürgermeister: „Herr Bürgermeister ist dies denn korrekt im Rahmen meiner Dienstaufgaben auszuführen? Hier handelt es sich doch eigentlich um eine private Angelegenheit.“

Der Bürgermeister hob die rechte Augenbraue und sagte: „Herr Schreiber, wenn ichIhnen das sage, dann ist es eine Dienstangelegenheit.“

Der Schreiber erschrak. Es war ihm peinlich. Er wollte doch die Obrigkeit respektieren und hier war er über das Maß hinaus geschossen.

Er war verstört, dass ihm so etwas passieren konnte. So ging er geflissentlich zu dem Herrn Rhenanus und empfing dort das Material mit dem er am nächsten Tag nach Freiburg reiten wird.

Das Ereignis im Schlettstadter Wald

Die Reise von Schlettstadt nach Freiburg war in den damaligen Zeiten beschwerlich: Die Reise ging fast nur durch Sümpfe und durch Gegenden, die unsicher waren.

Vor allem der Schlettstadter Wald, heute als Illwald bekannt, war gefährlich:

Allerlei Gesindel trieb sich in dem Wald herum. Es gab viele Legenden: Geister, Zauberer und andere verwunschene Wesen lebten dort. Aus diesem Grund waren wohl am Eingang und am Ausgang des Waldes jeweils eine Kapelle gebaut worden, so dass man in beiden Kapellen für eine gute Durchreise, je nach Richtung, beten konnte. Beide Kapellen sind übrigens bis in unsere heutige Zeit erhalten geblieben. Natürlich hält jetzt keiner mehr in diesen Kapellen inne.

Er verließ morgens sehr früh bei Sonnenaufgang sein Haus, prüfte noch einmal ob er alle Unterlagen dabei hatte, weil er diese Mission perfekt ausfüllen und dem Vertrauen, das der Bürgermeister in ihn gesetzt hatte, würdig sein wollte. Er ritt los bis zur ersten Kapelle vor dem Schlettstadter Wald. Er würde sich an den Brauch halten, in dieser Kapelle zu beten.

Er wollte vor der Kapelle von seinem Pferd absteigen, da sah er eine große blaue Libelle, die vor seiner Nase schwirrte. Die Libelle fiel ihm fast nicht auf, weil hier in den Sommermonaten, aufgrund der vielen Sümpfe und dem vielen Wasser im Rheintal, eine Libelle keine aufregende Sache war.

Als er schon fast den ersten Fuß auf dem Boden hatte wurde er doch sehr stutzig. Es war Winter und auch noch kurz vor Weihnachten. Da gab es eigentlich keine Libellen mehr. Er suchte nach der Libelle und diese hatte sich mittlerweile auf dem Rücken der Sitzbank, die vor der Kapelle stand, nieder gelassen. Er dachte gerade „Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu“, da sah er einen sehr dicken Mann auf der Bank sitzen.

Er hätte schwören können, dass dieser noch nicht da saß, als er vom Weg in Richtung Kapellenvorplatz mit seinem Pferd einbog. Der Mann gefiel ihm nicht: Es war offensichtlich einer von denen, die nicht Maß halten konnten: er war dick, er sah auch gefräßig aus, offensichtlich mochte er sehr gerne und lange auf Bänken sitzen. Der Schreiber dachte: „Ein Faulpelz, ein Nichtstuer, so wie ich viele Profiteure in Schlettstadt kenne.“ Er versuchte immer dem Bürgermeister klar zu machen, dass solche Leute eigentlich keinen Respekt verdient hätten und ihm persönlich waren sie ein Abscheu.

Er stieg vom Pferd herunter, grüßte sehr knapp und wollte in die Kapelle gehen. Der Dicke sagte: „Da bist Du ja endlich.“ Unser Schreiber erschrak und war gleichzeitig sehr erbost. „Kennen wir uns?“ Der Dicke lachte richtig laut und herzlich. Unser Schreiber wunderte sich, dass die Libelle während diesem ganzen Lärm nicht davon flog. „Natürlich kennen wir uns,“ sagte der Dicke, „ich bin sogar ein Teil von Dir.“ Der Schreiber verstand das nun wirklich nicht. „Nein,“ sagte er, „Sie sind nicht mit mir verwandt, sonst würde ich Sie kennen!“ Der Dicke sagte: „Nein, ich bin DU. Ich bin ein Teil von DIR!“ Dem Schreiber entglitten die Gesichtszüge, denn das fand er dann doch zu viel.

Er sagte: „Hören Sie zu. Ich bin der Stadtschreiber von Schlettstadt. Ich mache hier mein Gebet, wie es sich gehört und ich möchte Sie jetzt bitten mich in Ruhe zu lassen.“ Der Dicke stand auf, ging auf den Schreiber zu, so dass sein Bauch den Schreiber berührte. Die Libelle schwirrte ihm nach und setzte sich auf die Schulter des Dicken. Der Dicke war genau so groß, wie unser Schreiber. „Hör mal Schreiberling,“ sagte der Dicke, „Du unterdrückst mich seit Jahren, ich darf nichts tun, keinen Genuss haben, keine Frauen haben, wie jeder Mann in Deinem Stand es tut. Hier ist ein guter Ort, um Dir zu sagen, dass Du etwas ändern musst, weil ich platze, weil Du mir keinen Platz in Deinem Leben gibst. Ändere etwas oder ich muss mit Dir sehr böse werden, Du lässt mir keine andere Wahl!“ Der Schreiber musste vor Wut durchatmen, so hatte noch nie jemand mit ihm geredet. Um nicht völlig ausfällig zu werden - das wollte er natürlich nicht - schloss er die Augen, atmete noch einmal durch und wollte dann den Dicken auf seinen Platz zurück weisen. Als er jedoch die Augen öffnete war der Dicke weg. Er erschrak, weil die Libelle direkt auf ihn zuflog und dann gleichfalls vor seinen Augen verschwand. Daraufhin flüchtete er auf sein Pferd und vergass, sowohl in der ersten, als auch in der zweiten Kapelle halt zu machen.

 

Der Schlettstadter Wald reloaded

Als er am anderen Morgen wieder los ritt von Freiburg nach Schlettstadt war er nicht zufrieden. Erasmus von Rotterdam hatte gestern Abend Gäste und er hatte die Ehre am Tisch für die Minderen unter ihnen zu sitzen. Er hatte ein zweites Glas Wein richtig genossen. Er war leicht betrunken gewesen nach dem zweiten Glas Wein.

„Es darf mir nicht noch einmal passieren“ dachte er, während er nach Schlettstadt zurück ritt. Er war sauer mit sich und er nahm sich vor, sich selbst gegenüber strenger zu sein.

Auch dieses mal, weil er ein mulmiges Gefühl hatte, betete er sicherheitshalber in der ersten Kapelle und ritt dann in den Wald. Doch ein gutes Stück vor der uns schon bekannten Kapelle überholte ihn von hinten wiederum diese vermaledeite blaue Libelle. Sie schwirrte ganz schnell an ihm vorbei und er verlor sie aus den Augen. „Gott sei Dank“, dachte er.

Er kam auf die Höhe der Kapelle. Er hörte das Schwirren der Libelle wieder. Er sah vor sich diesen dicken, ekligen Mann und ein zweiten Mann, den er nicht kannte.

Als er näher kam und diesen Zweiten besser sah, erschrak er. Dieser Mann war sehr hager, noch hagerer als er. Er sah ihm deutlich ähnlich, Ränder unter den Augen deutlicher als die eigenen. Er stand etwas distanziert zum Dicken. Er machte gar kein freundliches Gesicht. Dieses mal dachte der Schreiber selber, „Oh je, das könnte nun wirklich ein Zwillingsbruder sein.“

Knapp hatte er diesen Gedanken ausgesprochen, fing dieser Hagere an zu schreien: „Was erlaubst Du Dir zwei Gläser Wein zu trinken? Du glaubst wohl, so kommst Du im Leben weiter. Du bist kein ordentlicher Schreiber, Du bist ein Liederlicher, Du bist so einer wie der da. Du wirst so enden!“ Dabei zeigte er auf den Dicken. Der Dicke schaute den Hageren von oben bis unten an und sprach verächtlich: „Du hast ja keine Ahnung vom Leben! Du denkst das Leben geht so, wie Du Dir das vorstellst. Dabei hat er Recht gehabt. Ein gutes Glas Wein hat noch niemandem geschadet und Du schreist schon wieder hier herum. Du verdirbst mir das Leben bei dem und ihm selbst mit. Du machst dem immer weiß, dass Du weißt wie das Leben geht, dabei weißt Du es gar nicht. Du bist nur ein elendiger Lebensvermeider.“ Der Dicke redete sich in Rage, der Hagere blieb still, wandte sich ab und drehte dem Dicken den Rücken zu. „Ich lass mich hier doch nicht beleidigen von einem Taugenichts!“

Unser Schreiber blieb vor lauter Angst und sicherheitshalber auf dem Pferd sitzen. Der Dicke wandte sich an ihn direkt: „Siehst Du, das hast Du jetzt davon. Jetzt haben wir den da auch noch hier! Letztes Mal konnte ich ja noch alleine mit Dir reden, aber der macht immer alles komplizierter. Kaum bin ich da, versucht er mich wieder weg zu drängen. Ich habe das Spiel satt! Entweder ich bekomme jetzt einen Platz in Deinem Leben, oder ich mache es wie der. Ich verderbe Dir alles!“ sprach er, drehte sich um und zeigte dem Hageren und dem Schreiber auf dem Pferd den Rücken und blieb still. Beide sagten dann im Chor: „Entscheide Du!“ Die Libelle schwirrte auf unseren Schreiber zu und ließ sich auf seiner Schulter nieder. Der Schreiber wusste jetzt wirklich nicht mehr was er tun sollte.

Irgendein Zauber lief hier ab. Er merkte ganz genau, dass die beiden, wie auch immer, tatsächlich etwas mit ihm zu tun haben. Woher wusste der Hagere, dass er Wein getrunken hatte. Er hatte es selbstverständlich niemandem erzählt, er war sicher nicht bei dem Essen dabei gewesen. Der Hagere war ihm sehr viel sympathischer und näher. Eigentlich führte dieser Mann ein Leben, wie er es führen wollte, nur der konnte es offensichtlich besser. Er saß auf seinem Pferd und sprach leise: „Was würdet Ihr mir denn, ja, was würden Sie mir denn empfehlen?“ Da drehten sich beide gleichzeitig um und fingen gleichzeitig an ihn anzuschreien und permanent auf den anderen zu zeigen. Die Libelle wiederum blieb ruhig sitzen. Der Schreiber geriet in Panik und er schrie so laut er konnte: „Weg, weg!“ gab seinem Pferd die Sporen und flüchtete aus diesem Wald heraus. Er ritt so schnell wie möglich nach Schlettstadt. Dort lief er sehr schnell in seine Amtsstube, machte die Tür hinter sich zu und hoffte hier nun seine Ruhe zu haben.

Er hatte sich kaum beruhigt, so bat man ihn zum Bürgermeister. Der Bürgermeister sagte: „Schreiber, man hat mir zugetragen, dass Sie nicht, wie es sich gehört, in beiden Kapellen vor und nach dem Schlettstadter Wald gebetet haben.“ Der Schreiber dachte, wenn der jetzt auch vom zweiten Glas Wein weiß… Jedoch der Bürgermeister sagte: „Herr Schreiber mir ist es egal, dass Sie da nicht hinein gehen, aber dass Sie gesehen werden beim nicht hineingehen, ist mir nicht egal.“

 

Der Dicke greift an!

Nach diesen Erlebnissen nahm sich der Schreiber vor noch härter, rechtschaffener und frommer zu werden. Vor dem Dienstantritt ging er immer nach St. Fidelis, betete inbrünstig und ging dann seinem Amte nach.

Zu Hause hatte er ein strenges Regime eingeführt: Bier und Wein waren von seinem Tisch verband, es gab viel weniger zu essen, so wenig, dass sogar seine Frau sich um die Kinder Sorgen machte. Er ließ jedoch nicht mit sich reden. Auch auf der Arbeit war er mit allem strenger: Die Boten mussten schneller laufen, die Händler der Stadt wies er strenger zurück und er selbst machte seine Arbeit noch genauer und hielt strengstens Ordnung.

Er kopierte ältere Manuskripte neu. Wenn ihm dabei ein kleiner Fehler unterlief, fing er wieder von vorne an. Er veränderte die Ordnung öfters, weil er versuchte sie zu verbessern. Alle Anderen, die Zugriff auf dieses Archiv hatten, waren dann immer wieder neu zu schulen. Alle um ihn herum wunderten sich: Die Unordnung war größer geworden.

Sie blieben aber still.

Dann passierte Folgendes:

Eines Sonntags kam er mit seiner Frau nach der Messe aus der Kirche.

Wie immer sprach man - gemäß seinem Stand - rechts und links mit den Wichtigen der Stadt, in dem man gemächlich über den Kirchenvorplatz ein Stück gemeinsam ging und sich dann erst entsprechend seinem Heimweg verteilte.

Ganz hinten an diesem Kirchenvorplatz - dies war stadtbekannt - gab es das so genannte Bäderhaus, heute würden wir von einem Puff sprechen. So mussten die Wichtigen dieser Stadt immer wieder daran vorbei. Die Mädchen ließen es sich nicht nehmen, sich an den Türen, Balkonen und Fenstern des Bäderhauses blicken zu lassen. Als unser Schreiber an dem Bäderhaus vorbei schritt mit anderen Notabelen des Städtchens - er war gewohnt dieses Bäderhaus rigoros zu ignorieren - ging ein Raunen durch die Mädchenschar und alle versammelten sich unten an der Tür und winkten ihm auf die freundlichste Art zu und einige riefen: „Hallo, mein Schreiber!“ Der Schreiber erschrak und blickte auf die Huren, die er selbstverständlich nicht kannte. Er bemerkte, um ihn herum lagen alle Blicke wie Blei auf ihm. Seine Frau blickte ihn erbost an, nahm ihn noch fester unter den Arm und schleppte ihn einfach weg. Zu Hause stellte sie ihn, doch er konnte gar keine Erklärung dafür geben.

Am anderen Tag ging er - wie immer - sehr früh arbeiten. Ganz aussergewöhnlich begegnete er dem Bürgermeister, der ebenfalls in Richtung seines Dienstsitzes ging. Auf dem Weg mussten sie an einigen Wirtshäusern, die keinen guten Ruf hatten, vorbei und auch da passierte es: die Wirte, es waren vier an der Zahl, grüßten alle, als der Schreiber mit dem Bürgermeister vorbei ging, den Schreiber sehr freundlich und überschwänglich. Der Bürgermeister erhob viermal die rechte Augenbraue und der Schreiber spürte seine ganze Verachtung.

Er war wie am Boden zerstört. Er wusste nicht mehr was passierte und er flüchtete in seine Amtsstube und war froh seine Pergamente und Papiere wieder zu finden.

Jedoch auch hier sollte ihm keine Ruhe gegönnt sein. Knapp saß er und hatte den ersten Stapel zur Bearbeitung vor sich ausgebreitet, so hörte er das bekannte Schwirren. Er drehte sich um und wahrlich, die blaue Libelle saß im Regal. Kaum hatte er sie erblickt, hörte er die Stimme des Dicken: „Wie Du willst Schreiberling, wenn Du mir keinen Platz gibst, mache ich Dich fertig! Du hast ja jetzt gesehen zu was ich fähig bin!“ Der Schreiber war ausser sich: „Ich war nicht bei den Huren! Ich habe auch nicht in diesen Wirtshäusern die Nacht verbracht!“ Er hörte den Dicken, den er mittlerweile zwischen den Regalen suchte, sprechen: „Bist Du sicher Schreiberling, woher kennen die Dich denn? Du warst da mit mir, Du verdrängst das alles!“ „Fort, fort!“ schrie der Schreiber und er suchte den Dicken immer noch zwischen den Regalen. Er fand ihn nicht. Zurück am Schreibtisch merkte er, dass die Libelle immer noch da war.

Er war verzweifelt. Es klopfte an der Tür. Die Tür ging auf, ohne, dass er die Zeit hatte ja zu sagen. Dieser Hagere stand vor ihm. Es war ihm schon etwas angenehmer. Der Hagere kam ohne ein Wort zu sagen herein und setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Der Hagere sagte: „Gut, dass wir beide jetzt alleine sind. Der Dicke schleppt Dich überall hin, wo Du nicht hingehen möchtest. Du weißt es nicht einmal mehr. Er wird Dir Dein Leben verderben. Er wird Dich ins Lotterleben ziehen. Du musst mir zuhören! Schmeiß ihn aus Deinem Leben raus!“ „Ja,“ sagte der Schreiber, „gerne, aber wie mache ich das? Hilf mir!“ Nun schaute der Hagere ihm sehr tief in die Augen, hob seine Augenbrauen und er sah ihn mit seinen dunkel eingefallenen, überarbeiteten Augen an. Er sagte: „Gib es zu, die Mädchen sind schon attraktiv für Dich!“ Da sagte der Schreiber leise: „Woher weisst Du das?“ Der Hagere ließ sich nicht irritieren und fragte weiter: „Gib es zu, Wein ist für Dich ein Genuss!“ Der Schreiber schaute beschämt zu Boden. Der Hagere sagte: „Siehst Du, ich brauche nur zwei Fragen zu stellen und schon ist es klar. Du lädst den Dicken ein in Dein Leben! Seit Jahren kämpfe ich für Dich. Du musst den Dicken aus Deinem Leben schmeißen. Du musst auf allen Genuss verzichten, sonst wird es ein böses Ende nehmen!“ Der Schreiber spürte, dass er nicht wusste wie es geht, diese liederlichen Genüsse aus seinem Leben zu schmeißen. Er machte mehrmals den Mund auf und wollte etwas sagen. Es kamen jedoch keine Worte. Er war verzweifelt. Er blieb einfach an seinem Schreibtisch sitzen und schaute ziellos auf seine Papiere, die vor ihm lagen. Wann hört dieser Spuck endlich auf, dachte er. Nach einer Weile blickte er wieder auf und der Hagere und die Libelle waren verschwunden.

Er verließ seine Amtsstube und irrte eine Weile ziellos durch die Stadt. Dann ging er in die Kirche, zündete zwei Kerzen an, die er selbstverständlich bezahlte. Er setzte sich vor die Statue der heiligen Fidelis und versuchte in seiner Hilflosigkeit und Verzweiflung, die anzurufen. Er merkte jedoch, dass er nicht konnte. Er blieb einfach still sitzen und er wusste, das geht jetzt wieder schief. Und tatsächlich: es dauerte nicht lange, da hörte er das charakteristische Schwirren und die ihm mittlerweile gut bekannte blaue Libelle ließ sich auf der Schulter von St. Fidelis nieder. Rechts neben ihm hatte der Dicke Platz genommen. Der Schreiber wisperte leise: „Verschwinde! Geh weg aus dieser Kirche hier, hier gehörst Du nicht hin!“ Der Dicke legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Schreiber erschrak, weil sie sich seltsam angenehm anfühlte, diese dicke Pranke. Der Dicke sagte leise: „Schau mich mal an Schreiberling.“ Der Schreiber drehte seinen Kopf leicht nach rechts und er schaute ihn an. Der Dicke lächelte und sprach: „Weißt du Schreiberling, Du denkst, ich gehöre hier nicht hin. Ich weiß, dass Du mich nicht magst und mich verachtest. Nun höre mir gut zu.“

„Seit Jahren lebe ich in Dir im Verborgenen. Seit Jahren muss ich mich in Dir verstecken. Du nimmst mich nirgends mit. Du lädst mich nie dazu ein. Und ich war bisher einverstanden, weil ich dachte irgendwann bist Du soweit, dass Du den Teil des Lebens, den man Genuss, Freude oder auch einfach Offenheit und Ehrlichkeit, Beziehungen zu anderen Menschen haben, das Leben teilen, nennt, endlich akzeptierst und in Dein Leben integrierst. Und was machst Du? Du hörst diesem Hageren immer noch zu! Schau mal, wie ich ausschaue. Ich bin dick und hässlich. Ich bin eklig. Ich muss mein Leben mit Dir in Puffs und zwielichtigen Wirtshäusern verbringen, wenn ich ein wenig für mich haben will. Das ist doch nicht normal. Man kann doch nicht ohne Genuss und Freude leben!“

Und während der Dicke so redete, wurde unser Schreiber plötzlich traurig und als er dies merkte erschrak er. Und zum ersten Mal konnte er den Dicken verstehen. Er hörte sich sagen: „Ja, das verstehe ich, was Du sagst. Aber was soll ich denn tun?“ Der Dicke sagte: „Lass mich in Dir leben!“ Der Schreiber drehte sich ganz zum Dicken um und wollte ihn weiter fragen, jedoch der Dicke war weg. Er hörte von der linken Seite eine Stimme, die sagte: „So und was machst Du dann mit mir?“ Er erschrak, drehte sich nach links um und der Hagere saß da.

Dem Schreiber wurde seine ganze Verzweiflung klar. Der Hagere schaute ihn mit seinen dunklen Augen an und sagte: „Weisst Du, seit Jahren bin ich bei Dir und sichere, dass Du etwas geworden bist. Ich habe Dir Kraft geschickt einen ordentlichen Beruf zu erlernen. Ich sorge dafür, dass Du morgens früh aufstehst, dass Deine Frau ordentlich ist, dass Deine beiden Kinder gut erzogen werden, dass der Bürgermeister zufrieden mit Deinem Verhalten ist. Das alles willst Du jetzt opfern? Dabei habe ich so viel für Dich in Deinem Leben gemacht. Du hast es bisher gut gemacht.“ Der Schreiber in seiner Hilflosigkeit fragte: „Ja, wie soll ich das denn machen? Wie soll ich das zusammen bringen?“ und der Hagere sagte: „In dem Du mich in Dir leben lässt!“ Vor Verzweiflung vergrub der Schreiber sein Gesicht in seine Hände und weinte lange, sehr lange.

Und seine Frau wunderte sich mit einer rechts hochgezogenen Augenbraue, dass er so spät kam. Sie sagte: „Wo warst Du?“ Er schaute sie traurig an und sagte: „Wenn Du wüsstest!“ Seine Frau gab ihm eine schallende Ohrfeige und drehte sich auf dem Absatz um. Er fühlte sich nur noch elend. Er ging auf die Straße, knallte die Tür hinter sich zu (was er von sich nicht gewohnt war) und er sah sich dabei zu, wie er in eines dieser elendigen Wirtshäuser ging. Er bekam mit, wie er sich auf die sinnloseste Art und Weise betrank. Er wusste beim vierten Krug Wein, dass er wieder zu diesen Mädchen ging und erschrak bei dem Wort WIEDER. Ab dem Zeitpunkt war ihm alles egal.

 

Der Rebberg

„Da liegt er!“

„Wo?“

„Da oben!“ Er hörte Schritte von einer Menge Menschen und er machte blinzelnd die Augen auf. Vor ihm sah er die Gendarmerie der Stadt, den Bürgermeister und andere Helfer, die er kannte. Als der Bürgermeister ihn sah, sagte er zu den Anderen: „Nehmt ihn mit, nehmt ihn mit nach Hause, dass das möglichst wenig hier mitbekommen! Es ist ja nun wirklich sehr peinlich!“ Die Männer nahmen ihn und schleppten ihn durch den Weinberg, runter in die Stadt und brachten ihn seiner Frau zurück. Seine Frau sprach kein Wort mit ihm. Abends kam der Bürgermeister und sah ihn mit bösen Augen an und sagte: „Schreiber, wenn Du das so brauchst, dann mache das bitte nicht in Schlettstadt! Ein anständiger Mann, einer wie ich, der macht das in einer anderen Stadt. Ich mache das zum Beispiel immer in Straßburg.“ Der Schreiber schaute den Bürgermeister ungläubig an. „Ja!“ sagte der Bürgermeister, „jeder anständige Mann macht das so. Aber eben so, dass niemand es sieht. Du hast keinen Anstand. Du hast keine Scham. So geht es nicht!“ Für den Schreiber brach eine Welt zusammen. Der Bürgermeister war für ihn ein anständiger, respektabler Mann und jetzt entdeckte er, dass auch der ein Lotterleben führte, und dass er es nur versteckte. Der Bürgermeister war bekannt, dass er mit vielen Kirchenmännern befreundet war. Der Schreiber fragte den Bürgermeister: „Herr Bürgermeister, Sie sagen, alle anständigen Männer. Meinen Sie auch die Würdenträger unserer geliebten Kirche?“ Der Bürgermeister sagte: „Ja natürlich Schreiber! Ich frage mich manchmal in welcher Welt Du lebst.“ Der Schreiber wurde still und dachte „wenn Du wüsstest in welcher Welt ich lebe …“ Er hörte den Bürgermeister noch sagen: „Schreiber, ab jetzt will ich keine Abweichungen mehr, sonst müssen wir Ihre Tätigkeit beenden.“

Der Bürgermeister ging, in dem er sich von der Frau des Schreibers verabschiedete und sagte: „Ich schäme mich für Ihren Mann, was er Ihnen, gerade Ihnen auferlegt.“ Kaum war der Bürgermeister gegangen spürte er den kalten Blick seiner Frau auf sich. „Du verbietest mir seit Jahren auch nur den leisesten Genuss zu verspüren wenn wir miteinander schlafen. Und jetzt das! Du treibst Dich bei den Huren und zwielichtigen Gestalten rum. Schämst Du Dich nicht?“ Der Schreiber wusste, dass sie Recht hatte. Die Frau sagte: „Seit wir verheiratet sind hast Du mich geknechtet, Du hast mir beigebracht, dass ein Leben ohne Genuss richtig ist. Und ich habe es geglaubt. Und jetzt DAS. Ich verachte Dich!“ In seiner Verzweiflung wollte er alles erklären, das mit der Libelle, das mit dem Dicken, das mit dem Hageren und als er dann beginnen wollte brach er verzweifelt zusammen. Wie sollte er ihr das erklären? Er schwieg und stierte in die Leere. Die Verzweiflung brach über ihn hinein. Es war keine Lösung in Sicht.

 

Die Rettung durch Basel

Am anderen Morgen fand die Frau des Schreibers einen versiegelten Brief, der auf dem Tisch lag. Er war adressiert an sie und an den Bürgermeister. Der Schreiber selbst war nicht mehr im Hause. Sie dachte einen Moment lang, ob sie den Brief selbst öffnen sollte, jedoch demütig wie sie war, ging sie zum Bürgermeister und zeigte ihm den Brief. „Wo ist er?“ fragte er. „Ich dachte, Sie wüssten es.“ antwortete die Frau. Sie atmeten alle beide tief durch und öffneten den Brief.

Meine Liebe Frau,

sehr geehrter Herr Bürgermeister,

ich habe heute Nacht in meiner Verzweiflung eine Entscheidung getroffen.

Beide Leser hielten inne, weil sie dachten, dass jetzt erst die richtige Katastrophe los ginge.

Ich werde nach Basel gehen, um mich in die Hände von Herrn Calvin zu begeben.
Wie Sie wissen hat dieser vor kurzem ein eisernes Regime in Basel eingeführt: Kein Alkohol, er hat das Tanzen verboten, er greift rigoros durch bei jeder Abweichung. Ich bin so viel vom guten Weg abgekommen, dass ich Dich, meine liebe Frau, und Sie, Herr Bürgermeister, bitte zu verstehen, dass ich mich in den Schutz von Herrn Calvin und seiner Stadt begeben muss.

Die Frau war erleichtert. Der Bürgermeister dachte im Stillen: „Der kapiert aber auch gar nichts“, aber selbstverständlich blieb er still und wahrte die Fassade. Sie lasen weiter.

Ich werde mich noch einmal nützlich machen, indem ich weitere Unterlagen, die Herr Rhenanus mir gegeben hatte für Erasmus von Rotterdam, nach Freiburg bringe. Ich werde mich über Freiburg nach Basel begeben, um noch einmal für meine Stadt nützlich zu sein. Ich hoffe Sie können mir dadurch etwas verzeihen.

Der Bürgermeister verfügte nach dem Schreiben, dass dies soweit in Ordnung sei, und dass man jetzt erst einmal die Dinge abwarten sollte.

 

Das lange Warten

Man hörte von dem Schreiber ein ganzes Jahr nichts mehr. Es war wieder kurz vor Weihnachten, als die Frau des Schreibers zum Bürgermeister ging und sagte: „Herr Bürgermeister, es ist nun ein Jahr vorbei und mein Mann ist immer noch nicht zurück gekehrt.“ Der Bürgermeister sagte: „Ja, es ist ärgerlich und ich habe keinen Schreiber mehr. Und wissen Sie, was noch ärgerlicher ist? Ich weiß seit vorgestern, dass Ihr Mann nie in Basel angekommen ist. Eine Delegation der Stadt, die gestern bei mir war, hat, als ich nachfragte, was aus meinem Schreiber geworden ist, nur erstaunt geschaut und mir eröffnet, dass er nie in Basel angekommen ist.“

Beiden wurde klar: Seit diesem Tag als sie den Brief gelesen hatten, war der Schreiber verschwunden. Sie beschlossen schnellstmöglich nach Freiburg zum Herrn von Rotterdam zu reisen. Vielleicht wusste der etwas. Sie organisierten eine Kutsche und fuhren am nächsten Tag los. Sie baten um Audienz beim Herrn von Rotterdam und wurden vorgelassen und erzählten ihre Geschichte. Doch Erasmus von Rotterdam konnte ihnen nicht weiter helfen. Er sagte: „Da kann und will ich nichts dazu sagen,“ und lächelte komisch. Unverrichteter Dinge und etwas hilflos gingen der Bürgermeister und die Frau des Schreibers raus.

Bevor er in die Kutsche einstieg dachte der Bürgermeister. „Komisch, ich dachte ich hätte eine blaue Libelle auf der Schulter von diesem Herrn von Rotterdam gesehen, aber das kann doch gar nicht sein, es ist Winter“.

Die Kutsche fuhr los.

„Erasmus von Rotterdam forderte, nicht das Trennende, sondern die Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen zu erkunden und Gegensätzlichkeiten hinzunehmen. Er wird somit zum Wegbereiter des Toleranzgedankens. In seiner 1526 auf deutsch veröffentlichten Streitschrift „Vom freien Willen“ tritt Erasmus für die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen ein, ohne die ein moralisches und verantwortungsvolles Leben nicht möglich sei.

 

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