2014: Die Wald-Schusterei

Die Geschichte passiert dieses Jahr im Zwergenland. Das Zwergenland liegt weit, weit weg von uns, in einer ganz anderen Welt, von der wir Menschen nur eine kleine Ahnung haben.

Das Zwergenland sieht eigentlich ganz ähnlich aus, wie bei uns: Es gibt Wälder, Felder und Wiesen, Städte, Meere und Berge und alle Zwerge, die dort leben, sind fleißig und tüchtig. Was wir Menschen nicht wissen, ist, dass Schuhe für Zwerge sehr, sehr wichtig sind, weil Zwerge in ihrem Leben unglaub-lich viel laufen, gehen, umherwandern, wie dies so im Zwergenland üblich ist.

Ein Zwerg ohne Schuhe ist ein ehrenloser Zwerg. Eigentlich kann man sich im Zwergenland überhaupt nicht vorstellen, dass es ohne Schuhe in irgendeiner Form geht.

So besteht in diesem Zwergenland, einem Staat, der seit Zwergengedenken ein sehr gut organisierter Staat ist, eine Behörde, die SchuKon heißt, die die Schustereien des ganzen Landes über-wacht, kontrolliert und auch die Mindestqualität der Schuhe festlegt. Wir Menschen können uns das kaum vorstellen, jedoch es ist ein ähnliches System wie bei uns die Apotheken. So bestehen also überall in jedem Bezirk, in jedem Stadtteil, Schustereien, die fleißig Schuhe für die Zwerge herstellen. Diese Schustereien haben im Zwergenland eine lange, lange Tradition. Manchen existieren seit hunderten von Jahren und genießen eine gute Reputation. Viele dieser Schustereien haben mit den Jahrhunderten, in denen sie existieren, erhebliches Vermögen gesammelt, so dass sie neben den Schuhen auch andere gesellschaftliche Verantwortung übernommen haben, wie z. B. die Förderung der Zwergenorchester oder, dies vor allem in Schustereien in großen Städten, die Betreuung von Bedürftigen, die sich keine Schuhe leisten können.

So war es für jeden Zwerg völlig normal, dass in den Städten und häufig auch in den Dörfern, die Schustereien auf zentralen Plätzen in palastartigen Gebäuden waren. Schusterzwerge genossen ein hohes Ansehen, da sie vor allem einen sicheren und, wenn sie ihr Handwerk konnten, gar nicht so anstrengenden Arbeitsplatz hatten. Die Schuhe hatten sich mit der Zeit als ein wesentliches Attribut von Zwergen entwickelt: Es gab Schuhe für jede Gelegenheit: Hochzeitsschuhe, Geburtstagsschuhe, Trauerschuhe, Schuhe mit viel Dekoration, feste Schuhe für große Wanderschaften, Schuhe aus feinstem Ziegenleder, Schuhe mit Schnürsenkel aus Goldfaden für reiche Zwerge. Man kann sie nicht alle aufzählen. Im Zwergenland sagte man: „Zeig mir deine Schuhe und ich sage dir, wer du bist."
Ganz tief im Zwergenland hinter den sieben Hügeln und nach den sieben Flüssen gab es jedoch eine Ausnahme: Die Wald-Schusterei. Diese Schusterei hatte tatsächlich ihren Namen dadurch, dass sie nicht mitten in den kleinsten Dörfern lag, die es in diesem Hinterland gab, sondern am Rande des großen Waldes. In dem Wurzelwerk der großen Eichen, die dort standen, hatten sie ihre Ateliers eingerichtet. Es waren sehr einfache Ateliers, und wer nicht wusste, dass es die Wald-Schusterei dort gab, lief glatt an ihr vorbei.

Jedoch die Zwerge in dieser Gegend kannten sie und waren auch sehr zufrieden mit den Schuhen, die die Schusterei dort produzierte. Sie waren froh, dass sie keine weiten Wege auf sich nehmen mussten, um in die großen Städte zu gehen, um dort in den großen Palästen Schuhe zu kaufen.

Aurelosch, der Oberschuster der Waldschusterei, war ein sehr erfahrener Schuster. Er hatte sehr lebendige Augen, wie es sich für einen Zwerg gehört, einen langen Bart, und er war, so lange er zurück denken konnte Schuster aus Leidenschaft. Jedes mal, wenn er wieder Leder in der Hand hatte und er konnte aus diesem Leder einen guten Schuh mit einer festen Sohle machen, war er sehr zufrieden. Jedoch dies konnte er heute kaum noch, da er in seiner Schusterei nach dem Rechten sehen musste. Er besuchte regelmäßig die verschiedenen Ateliers und kontrollierte, ob die Zwerge die Arbeit gut machten, denn er wollte seine Kunden - wie gesagt, einfache, ländliche Zwerge - gut bedienen.

Er war sehr viel unterwegs bei Kunden in den Dörfern, wo er jedes mal einen Sack voll Schuhe mitnahm und sie zu den Kunden trug, sie dort verkaufte, sie anpries und auch regelmäßig und systematisch Vorträge hielt, wie man diese Schuhe am Besten pflegte. Kurzum: Aurelosch war ein leidenschaftlicher Schuster, der sich in seiner Wald-Schusterei sehr wohl fühlte und es sehr genoss, dort Oberschuster zu sein: Es war für ihn eine Ehre.

Auch mit diesem Posten war er ein einfacher Zwerg geblieben, dem seine Arbeit hohe Befriedigung gab. Wenn man ihn mit anderen Schustern über die Dörfer ziehen sah konnte man beobachten, wie er mit leuchtenden Augen entlang der manchmal langen Wege, immer wieder über Schuhe sprach, wie man das Leder präpariert, damit die Schuhe lange halten. Es war allen Schustern eine echte Freude mit Aurelosch zusammen zu arbeiten, weil sie ihn für einen aufrechten und rechten Zwerg hielten.

Manchmal ging Aurelosch abends, wenn alle anderen Zwerge Zuhause waren, in die Schatzkammer ganz hinten innerhalb des Wurzelwerks der etwas abgelegenen Eiche. Er schloss sie auf und ging mit einer Kerze hinein. Dort stand ein einfach gezimmerter Tisch mit einem Schemel auf den er sich setzte. Er stellte die Kerze auf dem Tisch ab, schaute sich das kleine Schätzkästlein an, machte es auf und er sah immer wieder nur zwei kleine Goldstücke drin liegen. Er schaute diese kurz an und machte dann das Schatzkästlein wieder zu. In diesen Momenten sah Aurelosch sehr alt aus und Sorgenfalten legten sich über seine Zwergenstirn. Er machte sich Sorgen, ob diese Reserve wohl ausreichte für harte Zeiten, damit er seine mittlerweile sehr liebgewonnenen Kunden, auch dann mit Schuhen beliefern konnte.
Er schaute in das kleine Regal, das hinter dem Tisch stand. Dort war eine mittlerweile angewachsene Kladde mit Pergamenten, die ihm regelmäßig SchuKon zukommen ließ.

Er wusste, dass dieser Schatz zu klein war, um die Schuhproduktion ganz sicher zu stellen. So bekam er Jahr für Jahr von der SchuKon immer wieder die Erinnerung, dass er unbedingt die Schatzkammer befüllen sollte, um den Kriterien einer ordentlichen, und vor allem sicheren, Schusterei zu entsprechen. In diesen Momenten dachte er oft an seine Anfänge in dieser Wald-Schusterei.

Er hatte als kleiner, junger, tüchtiger Schuster in einer großen Stadt in einer sehr prunkvollen, sehr renommierten Schusterei gearbeitet.

Eines Tages kam ein Kollege, der sich halb tot lachte, so dass der dicke Zwergenbauch auf und ab hüpfte. Er fragte ihn: „Warum lachst Du?" Der Kollege konnte gar nicht antworten vor lauter Lachen und er hatte bereits Tränen in den Augen. Irgendwann beruhigte er sich und erzählte: „Weißt Du, was ich heute gehörte habe? Es soll ganz dahinten nach den sieben Hügeln und den sieben Flüssen eine ganz kleine Schusterei geben, nur zwei Schuster arbeiten da, und die würden tatsächlich noch existieren." Aurelosch legte seine Stirn in Falten und sagte: „Und was ist daran lächerlich?" Jetzt wurde sein Kollege jedoch ernst und sagte: „Ach hör mal, Aurelosch, das geht doch nicht, das ist doch ganz unsicher. Diese Schusterei muss einfach an die Großen in der Umgebung angeschlossen werden. Es geht nicht, dass so eine Schusterei existiert. Wo kämen wir da hin, wenn diese Schusterei einfach machen könnte, was sie will." „Ach so" sagte Aurelosch, aber man hörte im Tonfall dieses „Ach so", dass er in keinster Weise die Meinung mit dem Kollegen teilte. Wenn er jetzt daran dachte, war er heute dem Kollegen von damals richtig dankbar.

Er hatte nämlich damals entschieden, wenn es irgendwie geht, möchte er Oberschuster in dieser lächerlichen Schusterei werden. Und er hatte sich bis zu seinem obersten Schuster der großen Schusterei durchgeboxt und hatte dann die Erlaubnis erhalten, diese Wald-Schusterei, von dem ihm der Kollege erzählt hatte, zu übernehmen.

Er erinnerte sich, was er am Anfang vorgefunden hatte. Ein völlig desolater Zustand der Ateliers, Dreiviertel waren geschlossen und nur noch zwei sehr alte und müde Zwerge haben mühsam zwei Paar Schuhe pro Woche hergestellt. Als er diese Schuster nach der Schatzkammer fragte, haben die ihn mit traurigen Augen angesehen und haben ihm gezeigt, wo er hingehen soll. Er hatte sie aufgesperrt und dann war in Aureloschs Gesicht das blanke Entsetzen zu sehen. Die Schatzkammer war leer.

Er saß irgendwann an seinem ersten Abend in einem der verlassenen Ateliers im Wurzelwerk einer der Eichen und dachte: „Jetzt habe ich mich vielleicht doch übernommen." Dann kam jedoch die beste Zeit seines langen Zwergenlebens. Er hatte am anderen Morgen Mut gefasst und ist durch die Lande gezogen. Mit seiner jovialen Art hatte er viele Zwerge angesprochen, was sie denn so an Schuhen benötigten. Er hatte sie begeistert und siehe da, nach zwei Wochen durch die Lande ziehen, hatte er so viele Schuhbestellungen, dass er beide alten Zwerge beschäftigen konnte und er musste, aufgrund seiner Kontakte, die er vorher hatte, weitere vier Schuster-Zwerge bitten, in der Wald-Schusterei mitzuhelfen. Es ging peu à peu mit der Wald-Schusterei wieder richtig bergauf. Direkt nach ca. 150 Jahren (und dies war für ein Zwergenleben eigentlich sehr schnell) war die Wald-Schusterei zu einer kleinen, mit ca. 100 Schustern, ausgestattete Schusterei wieder auferstanden. Aurelosch hatte geschuftet, hatte mittlerweile einige Atelier-Chefs eingestellt, die ihr Handwerk kannten. So konnten sie mittlerweile auch schon wieder verschiedene Formen und verschiedene Arten von Schuhen produzieren, um die Bevölkerung auch mit verschiedenen Schuhwerken ausstatten zu können.

In seiner Schatzkammer dachte er in dieser Zeit furchtbar gerne zurück. Es war die Schönste seines Lebens, weil es richtig Freude gemacht hatte, diese kleine Wald-Schusterei wieder aufzubauen.

Er erholte sich jedoch schnell von seiner Freude, weil irgendwann der Blick wieder auf die SchuhKon-Kladde und auf die winzig kleine Schatztruhe fiel. Er ging sehr sorgenvoll aus der Schatzkammer, sperrte sie zu und ging nach Hause.

Die Jahrzehnte liefen hin: Die kleine Wald-Schusterei arbeitete und arbeitete und stellte für ihre Umgebung Schuhe her. Der Schatz wurde nicht größer, jedoch Aurelosch, mit seinen vielen Kontakten, holte diverse Spezialisten ins Haus, um neue Ateliers zu eröffnen. Einen Schnürsenkel-Spezialist mit eigenem Atelier, einen Sohlenexperten für besonders feine Sohlen, einen Ösenfachmann für besonders haltbare Ösen, einen Färber, der aus dem fernen Süden kam und besonders schöne und brillante Farbleder herstellen konnte und manch andere Experten, die alle ihr eigenes Atelier erhielten. So wuchs die Wald-Schusterei und alle üblichen Experten gab es mittlerweile auch in der Wald-Schusterei. Manchmal kamen zwei der Atelier-Meister zu Aurelosch und sagten: „Aurelosch, geht das denn gut? Wir haben mittlerweile so viele Spezialisten, wie die großen Schustereien. Können wir uns das denn leisten? Brauchen wir die alle, weil unsere Landzwerge wollen einfache Schuhe?" Aurelosch wurde jedes mal, wenn sie kamen, ärgerlich. Er hatte selbst schon beobachtet, dass diese neuen Atelier-Chefs Schuhe produzierten, die eigentlich hier nicht zu verkaufen waren und er hatte sie auch öfters beobachtet, wie sie selbst mit diesen feinen Schuhen nach Hause gingen. Der Farbspezialist trug jeden Tag eine andere Farbe. Der Schnürsenkel-Spezialist hatte so viele Schuhe mit verschiedenen wunderschönen Schnürsenkeln, aber er sah diese immer nur an den eigenen Schuhen seiner Chef-Atelier-Zwerge und er wusste, das ist nicht gut.

Andererseits: Was sollte er tun? Er hatte sie geholt. Es waren gute Fachexperten in Sachen Schuhe und es gehörte sich für eine Schusterei, dies zu haben. Er ließ öfter seinem Ärger freien Lauf: „Hört mal zu, ihr Schuhmacher. Das gehört heutzutage zu einer modernen Schusterei dazu. Eure Standard-Schuhe, wie ihr sie macht, werden nicht mehr reichen. Wir müssen uns dynamisch weiter entwickeln." Die alten Atelier-Meister zogen den Kopf zwischen die Schultern und trippelten in ihren einfachen Schuhen davon. Aurelosch verblieb in Gedanken zurück. Er tröstete sich oft, indem er mit diesen moderneren Schuhen in die Dörfer zog und er selbst verkaufte diese dann auch. Es hat Mühe gekostet. Er hat mehr Standard-Schuhe verkauft, aber es hat ihm immer großen Spaß gemacht und die Leute überall in den kleinen Dörfern und auf den Höfen in dieser Gegend mochten ihn. Sie kauften ihm die Schuhe ab. Jedes Jahr, wenn der Brief von SchuKon kam, musste er ein Pergament zurück schicken, dass er nicht mehr in die Schatzkammer zurück legen konnte. Er war jedoch so stolz darauf, dass er diese Wald-Schusterei wieder aufgebaut hatte und die ganze Gegend war froh, dass es wieder eine ordentliche Schusterei gab. Er war sehr nah bei diesen Menschen und war froh, diese mit seinen Schuhen ausstatten zu können.

Doch die Zeiten wurden schlechter. Die kleine Schusterei hat immer weniger Schuhe verkauft, weil auch die Zwerge an Schuhen gespart haben. Die alle 10 Jahre stattfindende SchuKon-Tagung stand an und Aurelosch beriet sich mit seinen alten Atelier-Meistern, was dieses mal auf dieser Tagung Wichtiges war. Die Atelier-Meister schauten ihn traurig an und sagten: „Das wird dieses mal ein hartes Treffen für uns. Wir werden unter Kritik stehen." Aurelosch selbst ging gar nicht gern auf diese Tagung, weil er dort diese eitlen Ober-Zwerge der anderen Schustereien, die alle in feinsten Schuhen und in feinster Kleidung auftraten, traf. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie die Erfolgreichen waren.

Sie berieten sich und waren damit einverstanden, dass sie sich sehr zurück halten. Sie gingen zur Tagung und man sah ihnen bereits an ihrer Kleidung an, dass sie eigentlich nicht aus einer echten Schusterei stammten, weil alle anderen wie Fürsten-Zwerge aussahen: Man feierte sich selbst. Aurelosch und seine Zwerge standen abseits. Sie liebten es, etwas im Dunkeln zu stehen, da sie wussten, dass sie hier nicht erwünscht waren.

Gerade beendete der SchuKon-Zwergen-Präsident seine Rede: „Meine lieben Schuster-Zwerge, es ist somit klar geworden, dass wir Schustereien für die Stabilität unserer Zwergengesellschaft zuständig sind. Wir dürfen in unseren eigenen Reihen keine Schustereien tolerieren, die wirtschaftlich instabil werden, sondern wir benötigen Stabilität." Aurelosch und seine Mannen wussten, dass sie gemeint sind. Aurelosch flüsterte: „Jetzt gehen wir. Jetzt reicht es mir."

Von dem Zeitpunkt an, sah man Aurelosch etwas müde durch seine Wald-Schusterei von Atelier zu Atelier gehen. Seine Sorgenfalten hatten sich vergrößert und sein Bart war noch länger geworden. Man hatte ihm erzählt, dass auf den Dörfern die Zwerge aus der Stadt-Schusterei immer öfter auftauchten und behaupteten, dass sie die besseren Schuhe hätten und sie deutlich billiger verkauften, als die Wald-Schusterei dies konnte.

Aurelosch wusste ebenfalls, dass das eigentlich nur mit der Erlaubnis der SchuKon durchführbar sei, weil die Schustereien Konkurrenz auf dem eigenen Gebiet vermieden. Er kannte den Ober-Zwerg der Stadt-Schusterei und er wusste, dass dies ein eitler Zwerg war. Dieser bezog sein Selbstbewusstsein nur aus der Größe seiner Schatzkammer, die redliche Schuster-Zwerge jahrhundertelang erarbeitet hatten. Aurelosch dachte bitter: „Der hat doch gar nichts gearbeitet. Er hat einfach nur diese Schatzkammer geerbt." Er wusste, dass dieser Zwerg überall, wo sich Chef-Schuster trafen, schlecht über ihn redete. Aurelosch war verzweifelt. Er sah, dass seine alten Atelier-Chefs mit großen Sorgen an ihren Schuhen arbeiteten, von denen sie immer weniger verkauften.

Aurelosch wusste sich nicht mehr zu helfen. Jedes mal wenn die alten Atelier-Chefs zu ihm kamen und haben ihm vorgeschlagen, das oder jenes einzusparen, hat er sie mit sehr traurigen Augen angeschaut und gesagt: „Aber meine lieben Zwerge, dann sind wir doch keine richtige Schusterei mehr". Er war sehr traurig bei diesem Gedanken und konnte sich nicht entscheiden.

Sein ältester Atelier-Chef sagte: „Aurelosch, das wird schief gehen. Du weißt ja warum." Aurelosch wusste warum, weil er beobachtet hatte, dass die Spezialisten-Zwerge, wie es ihrer Fachkompetenz entsprach, immer mehr extravagante Schuhe herstellten und sie sorgten immer mehr nur noch für sich selbst. Sie machten sich Schuhe und manch einer lief bereits mit einem Ledermantel nach Hause, den er sich am Tag selbst gemacht hatte. Manchmal fehlten einige Felle, die die Schusterei eingekauft hatte, um Schuhe zu machen. Offensichtlich bedienten sich diese Spezialisten immer mehr an der Wald-Schusterei. Aurelosch war verbittert, weil er an seiner Wald-Schusterei hing. Er ging oft sehr traurig nach Hause und wusste sich nicht wirklich zu helfen.

Er dachte oft an alle redlichen Unter-Zwerge, die in den jeweiligen Ateliers arbeiteten und er wollte unbedingt diese Wald-Schusterei wegen diesen Zwergen erhalten. Eines Morgens kam er von Zuhause in die Schusterei und es war seltsam still. Die beiden alten Atelier-Meister standen mit Panik in den Augen vor ihren Ateliers. Sie warteten offensichtlich auf Aurelosch. Aurelosch ging zu ihnen und fragte: „Was ist los? Wo sind die Anderen?" „Sie sind nicht da," flüsterte der eine und der andere sagte: „Sie werden auch nicht mehr kommen." Bei näherem Hinsehen sah er, dass alle Unter-Zwerge da waren, jedoch die Atelier-Leiter, die Spezialisten, hatten ihnen für heute keine Arbeit gegeben. Aurelosch hatte keine Erklärung, bis er plötzlich in seinem Rücken spürte, dass da irgend etwas war. Die beiden erfahrenen Atelier-Chef-Zwerge blickten mit ihren panischen Augen ebenfalls dort hin.

Er drehte sich um und sah, dass die Ober-Zwerge, der SchuKon und der eitle Ober-Zwerg der Stadt-Schusterei hinter ihm standen. Martialisch mit ihren Armen vor der Brust und den Zwergenbart jeweils fein darüber gelegt. Aurelosch dachte: „Jetzt schließen sie mir meine Wald-Schusterei." Richtig in Panik geriet er dann, als er hinter dieser feinen Gesellschaft seine Spezialisten sah, die in ähnlicher martialischer Position dastanden: Sie hatten sich alle in der Stadt-Schusterei von dem eitlen Oberzwerg anstellen lassen. Sie hatten ihn und die älteren Atelier-Leiter verraten und verkauft.

Der altehrwürdige Chef der SchuKon, ein Zwerg mit Locken im Bart und an jedem Zwergenfinger einen Ring, an denen Brillanten nur so glitzerten, sagte: „Aurelosch, es ist vorbei. Gib deinen Schlüssel zur Schatzkammer her. Es geht nicht mehr." Der eitle Chef-Zwerg der Stadt-Schusterei keifte: „Gib ihn mir, gib ihn mir. Ich übernehme, ich übernehme, ich übernehme." Aurelosch zog die Kette mit dem Schlüssel der Schatzkammer über seinen Kopf. Er trug ihn immer am Körper. Er übergab ihn zitternd und wortlos an den eitlen Zwerg. Einer der Spezialisten sagte dann noch: „Wir konnten doch nicht anders, wir konnten doch nicht anders." Jedoch Aurelosch hörte dies nur noch zur Hälfte. Er schaute seine alten Atelier-Meister an, gab beiden die Hand. Aus sechs Augen kullerten schwere Tränen auf den Waldboden.

Aurelosch packte aus dem eigenen Atelier sein persönliches Schuster-Werkzeug zusammen. Seit Jahrhunderten hatte er diese Werkzeuge benutzt. Ohne sich umzudrehen ging er in den Wald. Er wanderte sicherlich zehn Tage und zehn Nächte bis er an dem anderen Waldrand etwas Licht sah. Dort hörte er eine Vogelstimme fiepen. Als er näher zu diesem Fiepen ging, sah er, dass es eine Meisen-Mutter war, die lauthals weinte. „Was ist denn los?" fragte Aurelosch, dem es ebenfalls nicht gut ging. Die Meisen-Mutter sagte: „Schau doch, schau doch, mein Kind hat sich die Kralle eingequetscht. Jetzt vor dem Winter. Was soll das werden? Er wird es nicht überleben."

Aurelosch, der ein sehr hilfsbereiter Zwerg war, schaute sich den Fuß der kleinen Meise an. Tatsächlich, der Fuß war mindestens drei mal gebrochen. Nach einer Weile Nachdenken sagte er zur Meisen-Mutter: „Meisen-Mutter ich glaube, ich kann dir helfen. Ich habe eine Idee." Er nahm sein Schuh-Werkzeug und er hatte noch kleine Fetzen von Leder in seiner Tasche. Mit seiner großen Fingerfertigkeit fertigte er einen kleinen Krallenhandschuh aus steifem Leder für die Meise an und steckte sie ihr an die Kralle. „Schau, Meisen-Mutter" sagte Aurelosch offensichtlich sehr zufrieden, „jetzt ist seine Kralle geschützt, so dass er den Winter gut übersteht." Die Meisen-Mutter kontrollierte das Werk, sah zufrieden aus und sagte zu Aurelosch: „Warte!" Die Meise flog weg und kam zurück mit einer Schlehenbeere im Schnabel und gab sie Aurelosch. Aurelosch wusste, dass gerade zu Beginn der Winterzeit die Schlehen das einzige Essen war, was Meisen hatten. Dies brachte sie über den Winter. Eine Schlehenbeere war somit sehr wertvoll für diese Meise. Er nahm sie dankend entgegen und als er wegging glitzerte in seinen Augen die gleiche Begeisterung und das gleiche Lächeln mit dem er anfänglich in der Wald-Schusterei arbeitete…


Die Zwergen-Schustereien hörten überhaupt nichts mehr von Aurelosch. Er war wie vom Zwergenboden verschwunden.

Die Zwerge bekamen nicht mit, dass in der Vogelwelt Aureloschs Krallenhandschuh reißenden Absatz hatte und Aurelosch schon mehrmals zum Ehrenvogel des Jahres gekrönt wurde.


Für einen aufrechten Unternehmer und Zwergenfreund.


 

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