2022: Die grausame, unschuldige Predicatrice

 

Über den Zusammenhang von internalisierter Schuld und eigener Grausamkeit

 

Prolog

 

Im Jahre des Herrn 1492

 

Ein Blitz erhellte kurz das kleine Bergdorf im Piemont. Die ärmlichen, nassen Dächer, die nicht befestigten Wege, einige streunende Hunde, sie alle trieften vor Nässe. Der anschließende Donner bewies nur, dass das Gewitter nahe war und so schnell aus diesem kesselartigen Gebirge nicht mehr rauskommen wird.

 

Eine Haustür schlug auf und eine alte Frau schleppte sich - eine Regenmütze hastig übergezogen - über den glitschigen Schlamm, der bei Trockenheit ein Weg war, offensichtlich in Richtung Kirche.

 

Ein Weinen ging durch die offene Tür in dem starken Prasseln des Regens gnadenlos unter. Im Fenster unten rechts sah man Licht flackern und das Fenster im ersten Stock war für damalige Verhältnisse hell erleuchtet.

 

Ein Mann stand plötzlich in der Tür, schaute hoch zur Kirche und schüttelte verständnislos den Kopf. Ins Haus hinein gehend schloss er die Tür und ging unten ins Zimmer.

 

Er hob schnell eine umgefallene Kerze hoch und schaute verständnislos auf eine Art Hausaltar, wo manche nicht angezündete Kerze auf Erleuchtung wartete. Mehrere Kreuze waren auf diesem Altar aufgestellt. Er blies die Kerze aus und schüttelte noch einmal den Kopf. Er spürte seine Gänsehaut und drehte sich um und ging aus dem Zimmer.

 

Draußen lächelte er, da er gerade Vater einer Tochter geworden war. Er war glücklich.

 

 

 

In der Kirche

 

Die alte Frau kniete vor dem Hauptaltar und der Pfarrer sagte gerade ziemlich laut und ziemlich unwirsch: „Gehen Sie nach Hause. Hören Sie auf.“

 

Die alte Frau - die gerade Großmutter geworden war - schaute den Pfarrer bitterböse an und sagte: „Sie ist an allem schuld. Sie wird uns das Leben verderben. Lassen Sie mich hier beten.“

 

Der Pfarrer nahm die Frau unwirsch am Arm und zerrte sie hoch. „Gehen Sie und hören Sie auf mit dem Blödsinn.“

 

Die Frau schüttelte sich den Arm frei und sie sagte: „Sie ist schuld. Sie ist an allem schuld.“

 

 

 

Im Haus

 

Die Ammen zogen die Haustür, als sie gingen, hinter sich zu.

 

Der Vater ging hoch und nahm seine Tochter in den Arm. Er lächelte ihr zu.

 

Die Frau im Bett - die Mutter - sah nicht glücklich aus.

 

„Glaubst Du, sie hat Recht?“, flüsterte sie.

 

Der Vater hob den Kopf und sagte: „Hör’ doch jetzt auf damit. Hör’ bitte damit auf. Fang’ Du nicht auch an.“

 

Die Mutter weinte leise, während unten die Tür aufging.


Für kurze Zeit war der prasselnde Regen deutlich zu hören.

 

Plötzlich stand die Großmutter nass triefend in der Tür und sagte: „Sie ist an allem Schuld. Sie wird Unheil über uns bringen. Es wird alles schrecklich sein.“

 

Der Vater, der jetzt nicht mehr lächelte, drehte sich zu ihr und sagte: „Ich bitte Dich, lass’ es.“

 

Die Großmutter schaute ihren Schwiegersohn mit großen, starrenden, bösen Augen an und sagte: „Darf ich Dich daran erinnern, wo Du her kommst?! Sei still. Ich werde dieses Unheil erziehen.“

 

Die Frau im Bett - wie gesagt die Mutter - weinte leise.

 

Der Vater drückte seine Tochter an sich und sagte nichts mehr. Das Gewitter plagte das kleine Dorf noch lange in dieser Nacht.

 

Das Fenster unten neben der Tür erhellte sich wieder nach und nach durch flackerndes Licht. Hätte jemand in diesem Moment durchs Fenster geschaut, so hätte er diesen makaberen Altar voller entzündeter Kerzen gesehen und eine zitternde alte Frau davor. Dieser hätte nicht gesehen, ob sie vor Wut oder vor Angst zittert.

 

 

 

Venedig 1522

 

30 Jahre später

 

Der Rat der Zehn hatte seine Sitzung gerade beendet und der Doge war allein im Ratssaal und schaute auf die Piazza San Marco. Er war im Zenit seiner Macht.

 

Die ganze Pracht von Venedig, die wir heute noch bewundern, stand gerade in vollem Prunk und er war der Doge.

 

Venedig, 127 Inseln in einer Lagune, die zu einer mächtigen Republik unter seiner Hand gewachsen war.

 

Eine Hand voll Pfeffersäcke waren so reich und so mächtig geworden, dass sie die damals bekannte Welt beherrschten. Eine eigene Armee, die ihre Schiffe beschützten, die Erfindung eines neuen Banksystems, das heute noch Gültigkeit hat. Die ersten „Banken“ waren entstanden, da die Händler auf Bänken vor ihren Palazzis ihre Finanzen ordneten. Die Pfeffersäcke hatten weltweit ihre Kontoren, die heute noch das Urmuster des Bankkontos sind.

 

Der Doge wusste dies alles: Er war sehr zufrieden. Der Prunk, der Marmor, der Goldbrokat in seinem Palast und in vielen umgebenden Palästen, der Markusdom mit den Reliquien vom Heiligen Markus, der Löwe, das Wahrzeichen der Stadt, all das befriedigte ihn.

 

Bei den Reliquien vom Heiligen Markus lächelte er in sich hinein: „Nicht einmal ich glaube das, dass es wirklich die Gebeine vom Heiligen Markus sind. So sind wir halt wir Händler. Wir kaufen uns einfach Bedeutung und Wichtigkeit, weil, wer es lange hat, darf es auch lange hängen lassen.“

 

Venedig - wie gesagt - eine Hand voll Pfeffersäcke.


Die Wichtigsten hatten ihre „Bänke“ auf dem Canale Grande und den abgehenden Kanälen.

 

Die Unwichtigen, eher versteckt in den vielen Rios, die dann in dem so typischen Nebel der Lagune geheimnisvoll aussahen.

 

Man war zu etwas gekommen. Man war eifersüchtig auf den Nachbarn. Man verbeugte sich und man hielt zusammen. Man hat Monopole des Handels aufgebaut und man bediente die bekannte Welt.

 

Venedig, zerfressen von Ambitionen und Sattheit...

 

 

 

Die Predicatrice aus dem Nichts tritt auf

 

Der Doge wollte gerade essen gehen, da hörte er eine Stimme. Es war eine Frauenstimme. Er öffnete das Fenster und auf der Piazza sah er auf einer Art Holzsäule eine Frau in einem dunkelblauen Seidengewand stehen.

 

„Ihr Händler aus Venedig: Händler wollt Ihr sein? Machtvoll wollt Ihr sein? Dass ich nicht lache. Ihr verstrickt und verzettelt Euch in Eifersüchteleien untereinander. Ihr denkt, Ihr seid mächtig, weil Ihr reicher seid als Eure Nachbarn. Ihr denkt, Ihr beherrscht die Welt, wenn Ihr Euren Palazzo auf den nächst größeren Kanal verlegen könnt. Venedig: Dass ich nicht lache. Euch fehlen Ambitionen, Euch fehlt der wirkliche Willen zur Macht. Ihr seid müde, dick und satt geworden. Venedig ...“

 

Der Doge schaute plötzlich etwas defokussiert in die Ferne. Diese Wörter erinnerten ihn an sich, wie er angefangen hatte: Klein, einfach, Händler, in einem der hintersten Kanäle und jetzt war er Doge. Ihm gefiel das, was er da hörte und wie er zum Essen ging sagte er zu seinem Sekretär: „Hol’ mir mal diese unbekannte Dame ins Haus, nach dem Essen.“

 

 

 

Die Predicatrice und der Doge

 

Das Gespräch zwischen dem Dogen und der Predicatrice fand statt.

 

Was genau in diesem Gespräch besprochen wurde weiß bis in die heutigen Tage niemand. Jedoch waren die Folgen groß.

 

Der Doge ließ für den anderen Tag den Rat der Zehn - die Regierung von Venedig - zusammen rufen.

 

Diese wunderten sich, denn sie hatten sich ja erst gestern getroffen.

 

Sie saßen in dem Ratssaal und sahen öfters eine große Frau im seidenen - blauen - Gewand hin- und herlaufen. Keiner kannte sie und keiner bemerkte sie auch wirklich bis der Doge kam und sich setzte. Da merkten sie plötzlich, dass auf der Seite des großen Tisches, wo nur er saß, zwei Stühle standen und die Predicatrice setzte sich auf den zweiten Stuhl. Ein Raunen ging durch den Saal.

 

Der Schiffsbauminister - Schiffe waren damals für Venedig sehr wichtig - fragte: „Wo ist denn Ihr Sekretär, werter Cuomo?“ Dieser war immer als Protokollant und auch als Berater des Doges bei Ratssitzungen dabei.

 

Der Doge schaute die Predicatrice an und diese sagte: „Den gibt es hier nicht mehr.“


Alle schauten den Dogen an, der dies mit einem leichten Nicken bestätigte. Es wurde jetzt still. Der Doge sagte nur: „Prego Signora Predicatrice.“


Das blaue Gewand stand auf und redete eine Stunde.


Der Doge war sichtlich erfreut und freute sich, je länger es ging, immer mehr.

 

Der Rat der Zehn, allesamt die wichtigen und die reichen Pfeffersäcke, die Monopolisten, die mit Seide und vor allem Gewürz reich geworden waren, waren am Anfang höflich still, sie raunten dann untereinander ein paar Einwürfe wie „unverschämt, so ein Blödsinn“, fingen dann an laut zu schreien und am Ende lachten sie alle laut und hämisch.

 

Don Enrico Dandolo - heute würden wir sagen der Finanzminister - stand auf mit einem süffisanten Lächeln und sagte: „Signora, ist es richtig, dass Sie nicht aus einer Händlerfamilie stammen?“

 

Die Predicatrice schaute Don Enrico mit einem verbissenen Gesicht an. „Ist es auch richtig, dass Sie noch nie wirklich auf einem Schiff waren?“ Gelächter ging durch den Raum.

 

„Ist es auch richtig, Signora, dass Sie weder ein Kontor im fernen Indien, weder die Finanzen einer großen Händlersfamilie, noch irgendeine andere nachweisbare Erfahrungen haben, nicht einmal mit den kleinen Händlern hinten am Rio San Andrea.“

 

Die Häme und das Gelächter hatten mittlerweile alle Ratsmitglieder erreicht.

 

Doch Don Enrico machte weiter. „Meine Signore, ich bitte Sie um Stille.“ Es wurde sofort still. „Signora, und Sie wollen uns hier erklären wie man Welthandel treibt, dass es da ein ganz neues Land gibt hinter Spanien und Portugal, unsere zukünftigen Konkurrenten, dass es unser Untergang bedeutet, wenn wir uns nicht auf diesen neuen Kontinent unterwegs machen, sondern nur uns untereinander zerstreiten?“

 

„Signora ich bitte Sie, Venedig bedeutungslos. Sie haben doch überhaupt keine Ahnung.“

 

Die Predicatrice wartete bis es wieder still war und sie sprach mit eiskalter ruhiger Stimme.

 

„Ich werde die echten Händler Venedigs zu neuen Ufern führen und treiben. Wenn Ihr, die führenden Händler Venedigs, Euch dies nicht mehr zutraut, weil Ihr müde, satt, eitel und mit kleinen Streitigkeiten untereinander beschäftigt seid, dann wird es auch mit anderen gehen.“

 

Ein Sturm der Entrüstung brauste durch den mit schwerem Goldbrokat ausgestatteten Ratssaal.

 

Don Enrico schrie: „Doge, sprich ein Machtwort.“

 

Der Doge setzte an aufzustehen, da knallte eine Tür. Die Predicatrice hatte den Raum verlassen.

 

Der Doge sagte: „Wer nicht mitmacht wird bald nicht mehr dazu gehören. Dieser Rat ist jetzt geschlossen.“

 

Die Stille, die nun entstanden war, war diesem Raum völlig unbekannt.

 

Im Büro des Dogen hörte man nun folgende Sätze: „So, Signora, jetzt müssen die nur noch mitmachen und Sie, Sie werde ich groß machen, aber Sie sind mir verantwortlich.“

 

Die Predicatrice lächelte mit einem von Ehrgeiz zerfressenem Gesicht dem Dogen entgegen. Sie sagte: „Selbstverständlich Doge, das mache ich Ihnen. Habe ich denn auch freie Hand?“

 

Der Doge schaute die Predicatrice sehr lange an. Er war sichtlich hin- und hergerissen. Er war schließlich der Doge. Jedoch die Aussicht auf neues Reichtum, auf ganz andere Dimensionen des Einflusses - Spanien und Portugal wurden ihm tatsächlich zu mächtig - ließen ihn schließlich nicken.

 

Die Predicatrice zog in den Dogenpalast ein.


Von außen her sah man häufig in ihren Gemächern bis tief in die Nacht das Licht brennen.

 

 

 

Einige Tage später in der Krypta der Basilika San Marco

 

In dieser ersten Basilika, die auf diesem Platz gebaut wurde und mittlerweile eine Krypta geworden war, saß unsere Dame im seidenen Blau.


Kerzen verbreiteten ein schummriges Licht.

 

Eine schneidige Stimme sagte: „Seht Ihr, Ihr habt Unrecht gehabt. Jetzt bin ich was geworden.“ Wie aus dem Nichts traten drei Gestalten hinter den Säulen hervor.

 

„Schämst Du Dich nicht? Was bist Du denn? Nichts hast Du bisher zustande gebracht.“

 

Die erste dunkle Gestalt, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, hatte gesprochen. Alle drei trugen schwarze lange Gewänder mit Kapuzen. Man sah ihre Gesichter nicht. Wenn man genau hinschaute merkte man, irgendwie waren sie vorhanden und doch durchsichtig.


„Du bist ein Taugenichts und Du wirst wieder alles verderben.“

 

Die Predicatrice sagte: „Aber ich habe doch nun im mächtigen Venedig...“

 

„Was hast Du denn erreicht?“, unterbrach die erste Stimme. Die zweite Stimme sagte: „Du bist und bleibst eine Schande.“

 

Die Stimme von Predicatrice wurde piepsiger: „Aber, aber,...“

 

Die laute Stille der Gestalten unterbrach sie offensichtlich. Ihre Stimme war kindhaft geworden und sie fragte an die dritte Gestalt gerichtet: „Und Du? Was sagst Du?“


Die dritte Gestalt hob fast hilflos die Schultern und sagte nichts.

 

 

 

Don Enricos Ende

 

In dem nächsten regulären Rat stellte die Predicatrice ihr Programm vor.

 

Die Steuern sollten erhöht werden, Schiffe müssten gebaut werden, Holz müsste angeschafft werden, der Minimalumsatz, damit man sich in Venedig niederlassen konnte, sollte verdreifacht werden, die Öffnungszeiten der Kontoren weltweit verlängert werden. Es sollten vor allem größere Schiffe gebaut werden, um diese unbekannte Welt zu entdecken und zugunsten Venedigs Macht dort dieses Land mit Kontoren der Händler zu übersäen. Jeder vom Rat der Zehn bekam ein strammes Programm. Manche von ihnen wurden bleich, manche von ihnen haben das Papier vor sich nicht einmal angesehen und Don Enrico, der Herr des Reichtums von Venedig stand auf, zerriß das ihm vorgelegte Dokument und sagte laut und deutlich: „Stupida Donna.“

 

Doch er saß noch nicht, so hatte der Doge den beiden Wachmännern an der Tür des Ratssaals ein Zeichen gegeben, die Don Enrico ergriffen und ihn abführten. Der Doge schaute mit zugekniffenen Augen in die restlichen neun Gesichter und sagte: „Will noch jemand etwas sagen?“ Alle waren still.

 

Der Doge sagte: „Meine Herren, dann bitte an die Arbeit, an die Umsetzung.“

 

Die Verhaftung von Don Enrico sprach sich in Windeseile in Venedig herum.

 

Auf dem San Marco Platz versammelten sich immer mehr Händler auch aus den hinteren Kanälen Rios. Manche freuten sich insgeheim, weil Enrico ein sehr arrogantes Mitglied des Rates der Zehn war, der jeden Einzelnen spüren ließ, der weniger Reichtum hatte als er.

 

Plötzlich rief jemand: „Schaut, das oberste Gericht.“

 

Und tatsächlich, aus einem der Verwaltungsgebäude kamen drei, in roter Seide gekleidete Richter, und in deren Schlepptau die Predicatrice und der verhaftete Don Enrico, mittlerweile in Ketten gelegt und kaum noch erkennbar.

 

Offensichtlich war Folter im Spiel.


Die Predicatrice stellte sich hinter den Dogen, der mittlerweile auch auf den Platz gekommen war.

 

„Ich verurteile Don Enrico wegen Hochverrat an Venedig“, sprach der oberste Richter und sagte: „Hängt ihn!“

 

Es ging dann in Windeseile. Der Henker der Stadt tauchte auf. Das Schafott, welches eh immer da stand, war offensichtlich schon bereit und kurze Zeit später baumelte Don Enrico am Strick.

 

Gute Beobachter sahen die Predicatrice leicht süffisant lächeln.

 

Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass die Signora die Dinge in Venedig mit dem Segen des Dogen übernommen hatte.

 

Wie immer, die Pfeffersäcke, die mit Don Enrico verbandelt waren, hatten plötzlich Angst. Die Anderen, die ihn sowieso nicht mochten, dachten: „Jetzt werde ich wichtiger.“

 

Wie immer: Venedig schmorte in der eigenen Suppe und zerfraß sich selbst.

 

 

 

Der Geheimdienst der Predicatrice

 

Der nächste Rat war anders. Jeder Minister berichtete fleißig über hundert kleinere Dinge, die Fortschritte darstellten.

 

Nach dem Rat sagte die Predicatrice zum Dogen: „Glauben Sie das?“ Der Doge schaute etwas verwundert.

 

„Ich glaube denen kein Wort. Ich werde ein Netz von Spionen aufbauen, damit wir die Wahrheit herausfinden. Ich brauche zehn Dir treue Diener.“

 

Der Doge ging ans Fenster, öffnete das Fenster und schaute über sein Venedig. Er stöhnte etwas und sagte: „Du bekommst sie.“

 

Später setzte sich die Predicatrice mit den zehn loyalen Dienern zusammen und gab folgende Anweisung:
„Baut überall in ganz Venedig in die Fassaden Briefkästen in denen Menschen Verräter an Venedig anonym anklagen können. Verbreitet diese Nachricht und animiert diese ganzen Händler Verräter anzuzeigen. Tut das schnell, tut das effizient.“

 

Die Diener schwirrten aus und wählten Fassaden aus. Steinmetze schlugen Mauern auf und mauerten die Briefkästen aus Stein ein. Die zehn Diener verbreiteten diskret die Nachricht.

 

Das Programm der Predicatrice wurde umgesetzt:

 

Die Steuern wurden erhöht, die Schiffswerften wurden vergrößert, Wälder wurden abgeholzt, die Händler, die den Umsatz nicht erreichten, wurden vor die Tore der Stadt gejagt.

 

In der Händlerwelt verbreitete sich schnell die Nachricht, dass Venedig sich in Aufbruchstimmung für die neue Welt einrichtet. In Genua, in Marseille, in Lissabon und auch in Madrid wurde dies bekannt.

 

Der Doge war mit den ersten Erfolgen zufrieden.

 

 

 

Erneut in der Krypta

 

„So, jetzt habt Ihr Eure Erfolge und lasst mich jetzt bitte in Ruhe. Ich kann was. Ich bin jetzt etwas. Ihr wolltet mir immer nur beibringen, dass ich nichts kann, dass ich schuld bin, dass ich verant- wortlich für alles und jeden bin. Seht her, ich bin jetzt sehr mächtig.“

 

Die Erste der drei Gestalten erschien wieder hinter einer Säule, gefolgt von den zwei anderen. Die dritte, stille Gestalt sagte: „Ich gratuliere Dir.“

 

Diese Gestalt hatte den Satz noch nicht ausgesprochen, so schrie die erste Gestalt: „Halt den Mund. Was ist das schon hier? Es ist doch nichts passiert. Es gibt Verräter in dieser Stadt. Es sind faule Säcke und Du, Du bist für die verantwortlich. Und Du allein, Du bist ein Nichts. Du wirst, wie immer, nichts erreichen.“

 

Die zweite Gestalt ging auf die Dame in blau zu und sagte: „Gib doch auf. Sieh doch endlich ein, dass Du schuld bist. Sieh doch endlich ein, dass Du immer nur Unheil bringst. Sieh es doch. Du wirst keinen Erfolg haben.“

 

Die Predicatrice schrie mit Tränen in den Augen: „Und ich werde es Euch beweisen. Ich werde es Euch beweisen. Koste es, was es wolle. Ihr macht mich seit Jahren kaputt und ich werde es Euch beweisen.“

 

 

 

Der Geheimdienst zeigt Folgen

 

Die Briefkästen des Geheimdienstes füllten sich in einer Windeseile. Die Eifersüchteleien, die Ambitionen, den Markt und den Handel vom Nachbarn zu übernehmen und sich dann peu à peu in den Canale Grande vorzuarbeiten war genug Motivation sich gegenseitig zu verraten.

 

Die Predicatrice berichtete regelmäßig dem Dogen und dieser war fassungslos: Er war umgeben von einer Brut von Verrätern, Illoyalen und Republikgegnern.

 

Daraufhin folgten viele Don Enrico: Manche verschwanden in Folterkellern, waren nie mehr gesehen und andere wurden einfach aus der Republik Venedig verbannt. Wer will schon entscheiden was die härteste Strafe war.

 

In den Scuolas, eine Art Mischform von Akademie, Zunft und - heute würde man sagen - Rotary Club, die vor dieser ganzen Entwicklung gemütliche Männerclubs waren, wurde es sehr still. Angst verbreitete sich und jeder bemühte sich, möglichst keinen Verdacht auf sich kommen zu lassen.

 

Es war die Zeit, wo die Predicatrice sich selbst in diese Scuolas einlud und es genoss, wie diese Feiglinge ihr huldigten, Bücklinge machten und wie am anderen Tag ihre Spione dann de- mentsprechend im Briefkasten gegenseitige Anschuldigungen fanden.

 

Sie hatte genug gegen jeden und sie ließ auch jeden wissen, dass sie genug hatte.

 

In der damals weltweit organisierten Händlerzunft sprach man über sie bis hoch zu den deutschen Hansestädten und war erstaunt über die deutlichen Erfolge, über die neue Effizienz in den Werften, über die Menge an Holz, die Venedig einkaufte.

 

Langsam rückte Venedig wieder in den Fokus der Händlerwelt zwischen Respekt und Konkurrenzdenken.

 

 

 

Der Doge bekommt Zweifel

 

Manchmal - wenn er alleine war - ging der Doge in seinem Palast umher. Er dachte an die früheren gemütlichen Zeiten, wo man zusammen saß und sich es gut gehen ließ, Witze machte über die ärmeren Händler und einfach nur seinen Reichtum genoss und ansonsten mit dem Leben zufrieden war.

 

Er verbat sich diese Gedanken immer wieder.

 

Eines Morgens kam die Predicatrice rein und sprach zum Dogen: „So geht es nicht weiter. Du musst Dich viel mehr durchsetzen, Inkonsequenzen ändern. So kommen wir hier nicht weiter. Weil, ich hier einen ambitionierten Dogen brauche, der konsequent Venedig groß und größer macht.

 

Der Doge schaute die Predicatrice ungläubig an.


„Seit wann gibst Du mir Befehle?“, sagte er fast drohend.

 

„Doge, Du hast mir freie Hand gegeben. Ich sorge für Venedig. Ich kann keine Kompromisse machen. Auch nicht mit dem Dogen.“

 

Mit diesen Sätzen schmiss sie ihm eine ganze Kladde an Beschuldigungen entgegen, die der Geheimdienst in den Briefkästen gegen den Dogen gesammelt hatte.

 

„Ich habe sie bisher zurück gehalten.“

 

Der Doge schaute die Predicatrice ungläubig an. Schweißperlen formten sich über das ganze Gesicht.

 

„Ich sorge für Venedig, Doge. Ich sorge wirklich für Venedig.“

 

 

 

Das Venedig der Predicatrice

 

Die Macht von Venedig wuchs. Die ganzen Händler arbeiteten wieder mehr und in die richtige Richtung.

 

Die Republikkassen waren randvoll. Die Palazzis wurden renoviert. Die Stadt erstrahlte im neuen Glanz.

 

Fremde Delegationen aus Indien, aus Asien, aus dem Orient, kamen wieder huldigend nach Venedig.

 

Auch die Armee führte wieder Eroberungen durch.

 

Insbesondere bekam Genua, die direkte Konkurrenz, dies zu spüren. Die Genueser hatten keine Chance. Genua wurde zu einer Filiale von Venedig.

 

Der Doge war still geworden. Er lebte in Angst.

 

Von aussen her empfanden alle, dass dieser Doge der mächtigste Doge war, der je Venedig vorstand.

 

Alles passierte in seinem Namen.

 

Die Predicatrice war gefürchtet. Sie wurde angelogen. Man vermied sie, wenn man es konnte.

 

Sogar die Händler aus den hinteren Kanälen, die mittlerweile auch reicher und reicher geworden waren und die leeren Palazzis, der verbannten Händler in den wichtigen Kanälen sich unter die Nägel gerissen hatten, waren nicht zufrieden.

 

Diese merkten auch irgendwie:„Es ist nicht wirklich gut.“

 

In den Gemächern der Predicatrice war Nachts das Licht immer noch an. Sie arbeitete und arbeitete. Sie sah nicht gut aus, sie war bleich, aber der Erfolg war da.

 

 

 

Die Gestalten in der Krypta

 

„So“, sagte die Predicatrice, „jetzt könnt Ihr Ruhe geben. Ich bin erfolgreich. Diese Republik Venedig ist durch mich wieder zu altem Glanz erschienen. Und jetzt könnt Ihr machen, was Ihr wollt, es ist wirklich Realität geworden.“

 

Die drei Gestalten, die wiederum hinter den Säulen hervorgetreten waren, waren erst einmal eine Weile still.

 

Ehe sie etwas sagten, sagte die Predicatrice: „Ihr könnt nicht mehr von mir verlangen.“

 

Kalt kam es sofort zurück: „Wir können machen, was wir wollen. Wir kennen Dich. Du bist und bleibst ein Riesenproblem. Du wirst nie reichen und Du bist wirklich schuld.“

 

Die zweite Stimme sagte wiederum: „Sieh es ein, mein Kind. sieh es ein.“ Die dritte Gestalt hob an und sagte: „Ihr könnt doch nicht ...“

 

Die beiden anderen Gestalten hoben kurz den Kopf um einen Zentimeter und die dritte Gestalt wurde wieder still.

 

Die Predicatrice sackte in sich zusammen. Sie konnte nicht mehr.

 

Diese angesammelte Grausamkeit dieser drei Gestalten staute sich in ihr. Sie wusste, so lange sie zurück denken konnte, waren diese drei Gestalten eng mit ihr verbunden. Sie war sie nie los geworden.

 

Sie hatte immer versucht, die Grausamkeit dieser Gestalten weiter zu geben, in dem sie für Venedig kämpfte. Sie hoffte, dass Sie dadurch Anerkennung dieser Gestalten finden würde.

 

Diese Anerkennung fehlte ihr ganz besonders.


Sie wusste nicht, wo diese drei Gestalten herkamen, aber sie waren - seit sie denken konnte - da.

 

Es war für sie grausam und sie gab diese Grausamkeit - seit sie denken konnte - weiter, um erfolgreich zu sein.

 

 

 

Der Doge rebelliert

 

Nach mehreren schlaflosen Nächten, seit der Szene mit den Anschuldigungen gegen ihn, bat der Doge um einen Termin bei der Predicatrice - so weit war es schon gekommen.

 

„Signora, so kann es nicht weiter gehen. Wir verlieren die venezianischen Händler, meine Freunde. Wir brauchen die und Sie machen mir die kaputt. Das wird alles schief gehen hier und Sie, Signora Predicatrice, sind dafür verantwortlich. Ich muss das jetzt stoppen. Ich kann das nicht so weiter laufen lassen.“

 

Die Predicatrice legte ihre Gänsefeder, mit der sie gerade einige neue Gesetze erließ, nieder. Wer gute Augen hatte konnte das leichte Zittern ihrer Hand sehen. Sie hatte auch das Siezen bemerkt.

 

Sie passte sich an: „Was haben Sie gesagt, Doge?“ Die Schweißperlen liefen dem Dogen gerade ins Auge.

 

Er stotterte leicht und sagte: „Aufhören, a, a, aufhören. Sie sind schuld. Sie machen Venedig kaputt. Wir brauchen diese Menschen.“

 

Man sah die Predicatrice die Zähne zusammen beißen. Die Backenmuskeln waren sichtbar. Die Farbe entwich ihrem Gesicht.

 

Es knallte plötzlich. Der Doge erschrak.

 

Die Predicatrice hatte mit der Faust auf den Schreibtisch geschlagen. „Ich habe in Ihrem Auftrag, mit Ihrer Billigung, aus Venedig endlich etwas gemacht.“

 

„Glauben Sie, mir macht das Spaß, Grausamkeiten auszuüben?“


„Glauben Sie, mir liegt irgend etwas an diesem faulen Venedig und jetzt, jetzt soll ich schon wieder schuldig sein, obwohl ich das alles für Venedig und für Sie gemacht habe?“

 

Am Ende schrie sie den Dogen an.

 

Die Predicatrice zitterte vor Wut. Ab einem gewissen Zeitpunkt fand sie keine Worte mehr und man sah sie deutlich innerlich zusammen brechen. Die Backenmuskulatur arbeitete noch, um Wörter zu formulieren, jedoch es kam nichts mehr.

 

In einem letzten Kraftakt schleuderte der Doge der Predicatrice eine Kladde entgegen, eine deutlich dickere, als sie dem Dogen entgegen geschleudert hatte und er sagte: „Ja, Sie sind schuld und hier ist der Beweis.“

 

Daraufhin verließ er das Büro.

 

 

 

Die Krypta ändert

 

In der Nacht schlich die Predicatrice wieder in die Krypta.

 

Sie wartete fast ruhig bis die drei Gestalten wieder erschienen und sie sagte kalt und ruhig: „Ihr ward und seid grausam zu mir.“

 

Sie deutete auf die erste Gestalt und flüsterte:

 

„Du brauchtest einen Schuldigen und eine Schuldige und Du hast mich, seit ich geboren bin, zu dieser gemacht.“

 

„Und Du“, sie drehte sich zu der zweiten Gestalt, „hast mich geopfert, nicht geschützt, wie es Deine Rolle gewesen wäre“.

 

Sie drehte sich zu der dritten Gestalt und ihre Stimme wurde klar und sanft:


„Und Du, Du hast immer anders über mich gedacht. Du warst feige. Du hast mich den Anderen ausgeliefert.“

 

Sie stand auf und mich hoch erhobenem Kopf sagte sie:


„Ihr wart alle drei grausam und ich, ich stupida Donna, habe Euch geglaubt.“


„Ich suchte bis heute Eure Anerkennung und ich dachte, wenn ich einfach erfolgreich bin, bekomme ich endlich Eure Anerkennung.“


„Ich habe heute verstanden, dass dies nie ändern wird, und dass Ihr mich nie anerkennen werdet.“

 

Die Dame, immer noch in der blauen Seide, stand sehr aufrecht.


Es war lange still.


„Ich werde ab heute Eure Anerkennung nicht mehr suchen. Eure Existenz macht mich schuldig.“

 

„Ich schmeiße Euch aus meinem Leben.“

 

„Ihr, ihr existiert nur, weil ich Euch in mir leben lasse. Heute entziehe ich Euch jegliche Existenzberechtigung.“

 

Ihre Stimme war kristallklar.


Sie war vorbereitet, dass es jetzt zu einem Kampf kommt. Doch die Gestalten blieben still.

 

 

 

Der Strick blieb unbenutzt

 

Als der Doge am anderen Tag die Verurteilung der Predicatrice vorbereitet hatte und alles in die Wege geleitet hat, bekam er die Nachricht, dass sie verschwunden war.

 

Er schickte seine Häscher in die ganze Stadt, die noch einmal nachgefragt haben, ob sie wirklich die Predicatrice suchen sollten und bald sprach sich herum, dass sie zum Tode verurteilt wurde und alle suchten mit.

 

Viele freuten sich auf dieses Fest.


Die Predicatrice ward nie mehr in Venedig gesehen.

 

 

 

Epilog

 

Noch lange wurde über die Predicatrice gesprochen.

 

Einige erzählten, dass sie es genau gesehen hätten, dass eine Dame in blauem Gewand eines morgens früh im venezianischen Nebel in der Lagune ins Meer gegangen war, bis ihr Kopf nicht mehr gesehen ward.

 

Andere behaupteten vehement, sie wäre gesehen worden mit einem Gondoliere im Nebel gegen Norden zu fahren. Sie wäre an einer der landwirtschaftlich genutzten Laguneninseln an Land gegangen. Sie würde dort ein ruhiges und glückliches Familienleben leben.

 

Nochmal andere schworen darauf, dass am spanischen Königshof eine Dame in blauem Gewand gesehen wurde, die eine wichtige Rolle spielte.

 

Spanien stieg dann in dieser Zeit zu einer absoluten Weltmacht auf.

 

Eine letzte Gruppe behauptete einfach, die Predicatrice hätte nie existiert.

 

Was wahr war, wurde dann doch nie festgestellt.

 

Sicher war, dass der Doge seit jenen Tagen sehr häufig am Fenster gesehen wurde und er starrte regungslos auf die Stelle an der er zum ersten Mal die Predicatrice sah.

 

 

 

Diese Geschichte ist allen Menschen gewidmet, die den Mut haben, ihre Gestalten aus der eigenen Krypta hinaus zu werfen und den Mut haben, diese zu überwinden. Sie helfen dabei realex- istierende Grausamkeiten zu vermindern.

 

Gott sei den Anderen gnädig.

 

 

 

jd

 

Weihnachten 2022

 

 

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