2023: Überflüssig ...

 

Wie die ersten Botschaften aufs ganze Leben Einfluss haben:
Von den Wurzeln der Feindseligkeit:

 

Der Krempelmann

 

Der Rhein war noch nicht begradigt und der Fluss schlängelte frei in seiner Senke.

 

Rechts und links auf den Anhöhen der Senke wuchsen schon Wein und brachten in dieses Land Reichtum. In der Mitte war Sumpf. Einige Auenfischer und manche Küfer lebten da.

 

Die Blütezeit in dem Rheintal, wie diese Senke genannt wurde, - die Renaissance - war seit langen Jahren vorbei und um das Tal war es still geworden.

 

Weit südlich von Straßburg saß ein Mann unter einer großen Trauerweide an einem Grundwassertümpel.

 

Es war Herbst, das Grundwasser war hoch.

 

Der Mann saß da, er rührte sich nicht. Das heißt, er rührte sich nicht für Unaufmerksame. Er hatte die Knie hochgezogen und seine Arme umgaben die Knie. Die linke Hand umfasste den rechten Knöchel und die rechte Hand hing herunter. Sie zitterte leicht.

 

Diejenigen, die sehr sensibel waren und in die Augen des Mannes schaute, der ziellos ins Wasser sah, bemerkte kleine zackige Bewegungen seiner Pupillen.

 

Der Mann tagträumte.

 

Hinter ihm, um diese Trauerweide herum, lag Krempel, altes Zeug, wertlos. Zumindest für uns alle.

 

Wurde der Krempel durch das letzte Hochwasser angeschwemmt? Hatte dieser Mann den Krempel hier abgelegt an dieser Trauerweide, die sich schützend über den Mann und den Krempel beugte?

 

Ein zerrissener, alter roter Vorhang, eine kaputte Laute, zwei verschlossene, aber angefressene Kisten, ein undefinierbares Objekt, welches vielleicht eine Theatermaske in der Zeit war, Metallstücke und in einer Ecke am Rand der Trauerweide lagen, teilweise aufgerissen, Lederbälle. Farbreste waren daran zu sehen. Es waren kleine Jonglierbälle.

 

Ich wollte mehr über diesen Mann wissen und ging ins nahegelegene Dorf und fragte.

 

Das Einzige, was ich erfuhr, dass er der Krempelmann genannt wurde.

 

Keiner aus dem Dorf wusste, wo er herkommt. Keiner aus dem Dorf wusste, was er dort machte und wo der Krempel herkam.

 

Er saß da. Für die Dorfbewohner offensichtlich: seit langen Jahren. Ob er im Winter verschwand oder nicht, konnte mir auch keiner sagen.

 

Ich ging zurück zu der Trauerweide und ich merkte ich musste eine erhebliche Länge hinter dem Mann stehen bleiben. Ich fror ein.

 

Ich habe keine Wörter gefunden.

 

Nach Minuten, die mir vorkamen wie Stunden, blickte der Mann kurz auf und im feindseligen Ton sagte er: „Was willst Du?“ Er flößte Angst ein und ich wollte mich schon umdrehen, doch ich besann mich, dass ich etwas erfahren wollte.

 

„Wer bist Du?“, fragte ich und der Mann schaute mich wieder feindselig an und sagte „Ein Nichts, ein Nichts mit dem Krempel seines Lebens, einsam und alleine, überflüssig.“

 

„Wohnst Du hier?“, fragte ich vorsichtig. Ein böser Blick kam zurück. Der Mann sagte zu mir: „Ich bin überflüssig, sagte ich Dir doch. Lass mich in Ruhe.“

 

Ich zögerte. Gefühlt sehr lange. Wahrscheinlich allerdings nur Sekunden.

 

Und ich ging.

 

 

Ein junger Mann zündelt und treibt Andere vor sich her

 

Jahre zurück.

 

Es war Kirchweihfest in diesem Städtchen im Rheingraben.

 

Direkt neben der romanischen Kirche, hinten am Chor, stand eine kleine Theaterbühne.

 

Schauspieler mühten sich ab, die Menge, die vor ihrer Bühne stand, zu amüsieren.

 

Manche konnten laut lachen, manche haben aber nicht einmal richtig hingeschaut.

 

Auf der Bühne starb der Held in den Armen seiner Prinzessin und das Stück war vorbei.

 

Im Publikum stand ein junger Mann, schaute auf diese Bühne mit einem eher mürrischen Gesicht und ab und an wieder ein kleines Lächeln. Als die Menge sich anderen Schaubuden zugewandt hat, ging er hinter die Bühne und fand vor zwei Pferdewägen die kleine Theatertruppe. Sie waren gerade - heute würden wir sagen - beim Debriefing.

 

Der Älteste der Truppe zählte die Münzen in einem Sack, die sie in der Menge herum gegeben hatte und sagte: „Wir können zufrieden sein.“

 

Der junge Mann rollte die Augen und zog somit die Aufmerksamkeit auf sich.

 

Der ältere Mann mit dem Geldsack schaute auf und sagte: „Können wir etwas für Sie tun?“

 

Der junge Mann lächelte etwas gequält und sagte: „Seid Ihr damit, was Ihr hier aufführt, zufrieden?“

 

Die junge Dame sagte: „Na ja, wir wissen, dass wir nicht gerade weltbekannt sind, aber wir können davon leben.“ Eine andere Dame sagte: „Ich habe schon Hunger gelitten in meinem Leben und ich bin heute sehr zufrieden.“

 

Der junge Mann schaute sehr skeptisch in die Runde und sagte: „Gebt Ihr Euch wirklich damit zufrieden?“

 

Der alte Mann sagte: „Was willst Du uns denn sagen?“

 

Der junge Mann stand in der Mitte und sagte: „Wollt Ihr nicht besser werden? Wollt Ihr nicht bekannter werden? Wollt Ihr nicht auf größeren Festen auftreten? Das Leben, der Erfolg und das Reichtum liegt doch vor Euch!“

 

„Mmmh“, sagte der Ältere, „Du kannst das?“

 

Der junge Mann sagte: „Ich kann Laute spielen. Ich kann Theater spielen. Ich kann Jonglieren. Ich kann Leute herbeirufen.“

 

„Mmmh“, sagte der alte Mann, „mmmh!“

 

Ein kleiner Junge, der eine kleine Rolle im Theaterstückchen übernommen hatte, sagte: „Großvater, lass ihn doch einmal vorspielen, vortanzen, wenn er so viel kann. Dann können wir ja schauen.“

 

Der Großvater lächelte und der kleine Junge sagte: „Hol Deine Instrumente und Deine Jongliersachen und zeige es uns.“

 

Aufmerksame Beobachter in der kleinen Theatertruppe sahen Angst über das Gesicht des jungen Mannes schweben und zwei, drei Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

 

 

Der Erfolg und die Schattenseite

 

Es war in Straßburg, kurz vor Ostern, und das Frühjahr meldete sich so langsam an.

 

Auf dem Münsterplatz fuhren fünf große Pferdewagen vor, die sofort die Aufmerksamkeit der spielenden Kinder auf sich zog.

 

Von dem ersten Wagen sprang unser bekannter Mann, der mittlerweile ein stattlicher Mann war, von dem Wagen.

 

Er bellte einige Befehle. „Die Wagen, wie immer, im Halbrundkreis. Ihr beiden dahinten baut die Bühne auf. Requisiten aus dem dritten Wagen, wie immer, in die Hinterbühne. Wir sollten in zwei Stunden spielen können.“

 

Sofort kam aus allen Wägen die kleine Theatertruppe, die wir schon kennen, und ein emsiges Treiben mit Holzpaneelen, Stoffen, Kostüme, Instrumente, Kisten, die so aussahen wie Schatzkisten, begann. Es war alles wie einstudiert.

 

Die Kinder, die auf dem Platz mittlerweile in Ehrfurcht und mit großen Augen, diesem Treiben zusahen, waren fasziniert.

 

Der uns bekannte Großvater stieg als Letzter aus dem vierten Wagen. Er war ins Alter gekommen und schaute diesem Treiben zu. Man konnte ihm ansehen, dass er das, was er sah, immer noch nicht glaubte. Ein Lächeln überflog sein Gesicht und auch ein gewisser Stolz, dass dies alles jetzt so ist. Die Theatertruppe war jetzt überall bekannt. Die Auftritte waren von großem Publikum besucht und die Truppe war sehr erfolgreich. Sie, diese Kleinen, die mit einem Pferd und einer schäbigen Kutsche angefangen hatten.

 

Sein Blick fiel auf den Mann mit der Laute und den Jonglierbällen und er dachte an die Szene, wo er ihn zum ersten Mal sah.

 

In seinem Gesicht war Dankbarkeit zu lesen.

 

Ja, es war wohl schon er, der diesen Erfolg organisiert, durchgezogen, verbessert hatte mit seiner Rastlosigkeit, mit seinem gnadenlosen Ehrgeiz, mit dem er diese Truppe vor sich hergetrieben hatte, entwickelt hatte, ausgepresst hatte.

 

Jedoch in diesem Lächeln war nicht nur dieser Respekt, den er vor diesem Mann hatte, zu sehen. Man sah auch in seinen Augen, für diejenigen, die dafür einen Blick hatten, Angst.

 

Hätte ihn jemand gefragt - es hat ihn niemand gefragt - er hätte nicht einmal sagen können, wo die Angst herkam.

 

„Großvater, bitte jetzt mach!“, bellte der - mittlerweile - Chef der Truppe ihn an und Großvaters Gedanken verflogen sofort.

 

In Windeseile war die Bühne mit großem rotem Vorhang aufgebaut, die Wagen im Halbrund versteckten sich hinter der Bühne und der Münsterplatz war mittlerweile schwarz vor Menschen.

 

Die Theatertruppe war schon lange angekündigt und wurde fiebernd erwartet. Sie waren alle gekommen: Die Armen, die Bürger, die Stadträte. Sie alle standen gespannt vor der Bühne.

 

Der Vorhang ging auf und der uns bekannte Mann mit der Laute trat auf die Bühne und spielte.

 

Die ganze Menge johlte mit, weil seine Lieder mittlerweile bekannt waren.

 

Er begrüßte die Menge und die ganze Truppe kam auf die Bühne und wurde leidenschaftlich beklatscht.

 

Ein Theaterstück, Jonglierkunststücke, Musik, Gesang, Szenen der Mimik mit aktuellen politischen Themen: Dieser Auftritt war jedes Mal wie ein Wirbelwind und jedes Mal kam dann dieser Zauber, diese Magie.

 

Die ganze Menge war wie weggerissen, die Alltagssorgen, bei vielen auch der Hunger, bei vielen die Gebrechen, waren wie weggezaubert und die ganze Truppe hatte die Menschen in ihr Zauberland verführt.

 

Nach Stunden - und es waren wirklich Stunden - fiel dann der Vorhang wieder zu. Die Menge löste sich peu à peu auf und hinter der Bühne in dem Wagenkreis saß die Truppe zusammen. Dem Großvater war jetzt die Angst anzusehen.

 

„Es reicht nicht, es reicht nicht“, hörte man den Chef der Truppe sagen. Sein Tonfall war sehr feindselig.

 

Die ganze Truppe war mucksmäuschenstill und es folgten Säcke voller Kritik, Vorwürfe an der Spielart, der Ungenauigkeit: nichts war gut und schon gar nicht genug. Wie nach jeder Aufführung kritisierte dieser Mann minutiös den Ablauf, die Organisation, die Requisiten, die Ungenauigkeiten, das Zögern der Schauspieler, … die alle während des Spiels entstanden waren.

 

Offensichtlich war dies die Truppe gewöhnt: Keiner muckste, keiner sagte etwas, aber Angst, manchmal Abscheu, manchmal Unverständnis und Hoffnungslosigkeit war in den Gesichtern zu sehen.

 

„Wir brauchen bessere Requisiten. Die doppelte Anzahl. Wir brauchen eine größere Bühne und auch der Vorhang sollte mal wieder ersetzt werden.“ Man sah den Chef der Truppe in seine Tasche greifen, holte ein Stück Papier und seine Gänsefeder heraus und er fing an eine Liste der noch zu beschaffenden Requisiten und Instrumente aufzuschreiben. Er fragte in die Truppe, was es noch für Ideen gab. Zwei, drei wagten Ideen zu sagen.

 

Großvater sagte: „Ich glaube, dann brauchen wir noch einmal zwei Wagen.“ „Stimmt“, bellte der Chef, „stimmt Großvater, das machen wir auch noch.“ Und niemand war wirklich aufmerksam auf das Stöhnen, das aus vielen Mündern entwich.

 

Geld war nicht das Problem. Der Chef der Truppe war ein guter Verhandler und mit den Städten und Auftritten handelte er gut, damit für die Menschen der Auftritt gratis war. Selbstverständlich stellten sie Spendentöpfe auf und es war auch eine Menge in den Töpfen. Er verhandelte auch, dass die Städte, in denen sie auftraten, Geld bezahlten. Dies war damals völlig unüblich und Spielleute waren eigentlich Hungerleider.

 

Er, er hatte es geschafft, dass dies bei der Truppe anders war.

 

Die Städte zahlten, damit sie, die einst kleine unbekannte Truppe in die Stadt kamen.

 

Die Truppe sah müde aus und wusste schon, dass die nächsten Monate hart werden: Neue Materialbeschaffung, die neuen Pferdewagen… Die Arbeit wurde immer mehr und sie wussten auch schon, dass wahrscheinlich der Auftritt länger, wahrscheinlich auch besser wird, und sie waren müde.

 

Sie verließen dann anschließend, nachdem sie alles wieder zusammengepackt hatten, Straßburg und schlugen ihr Lager vor den Toren der Stadt, nahe der Ill auf.

 

Ab diesem Moment war der Chef nie gesehen. Er baute sein Zelt immer etwas abseits auf. Jeder von der Truppe wusste, dass jetzt der Moment war, wo man ihm besser nicht begegnet.

 

Im Zelt wäre Folgendes zu beobachten gewesen, hätte jemand zuschauen können: Der Mann lief in seinem Zelt wie gestört auf und ab.

 

Er biß sich die Fingernägel ab. Auf seiner Stirn waren, die uns bekannten, Angstschweißperlen zu beobachten. Man hörte ihn Folgendes alleine sprechen:

„Aber, ich habe doch mein Bestes gegeben.“

 

Stille.

 

„Aber ich kann wirklich nicht mehr.“

 

Stille.

 

„Ich habe jetzt doch schon so viel für diese Leute gemacht.“

 

Stille.

 

Hätten wir Folgendes in seiner inneren Welt gehört, mit der er offensichtlich kämpfte, hören können, so hätten wir Folgendes in seiner inneren Welt gehört: „Und Du denkst, es reicht, was Du heute gebracht hast?“

 

„Aber, ich habe doch mein Bestes gegeben.“

 

„Ja, das Beste reicht nicht. Du weißt es doch. Gerade Du musst Dich mehr bemühen. Gerade Du weißt doch, dass es sonst wie immer ist.“

 

„Aber ich kann wirklich nicht mehr.“

 

„Es ist mir egal, ob Du kannst oder nicht kannst. Du weißt, dass es sonst Katastrophen gibt. Niemand will Dich, Du kannst nichts, wenn Du auf dieser Welt wirklich wer sein möchtest, dann musst Du dich sehr, sehr viel mehr anstrengen. Du weißt es doch. Jetzt mach. Und Du machst auch nie genug für Deine Leute.“

 

„Ich habe jetzt doch schon so viel für diese Leute gemacht.“

 

„Nein“, bellte die innere Stimme zurück, „nein, Du kannst noch viel mehr. Du weißt doch genau, Carola und die Lisbeth sind schwanger. Georg und Beate wollen heiraten. Die Truppe wird größer. Es reicht nicht und Du weißt ganz genau … Hast Du das Gesicht vom Großvater gesehen? Der ist unzufrieden und die sehen alle schlecht aus. Du musst mehr für sie tun. Du musst einfach mehr für sie tun.“

 

Der Chef der Truppe, unser Lautenmann, lief immer schneller.

 

Es gab mittlerweile nichts mehr an den Nägeln abzubeißen. Er hatte Magenschmerzen und sein Kopf brummte und er konnte einfach nicht mehr.

 

Er setzte sich hin.

 

Die Stimme:

 

„Ja gut, dass Du Dich hinsetzt. Jetzt schreibe mal einen Plan. Mache es mal besser. Und weißt Du, die sind alle müde. Du strengst sie zu viel an. Du musst was für sie machen, dass sie noch größer werden, aber Du sorgst nicht wirklich für sie.“

 

Zu diesem Zeitpunkt sah man dann den Jonglierer völlig hilflos in sich zusammen sacken.

 

Er flüsterte kaum hörbar:

 

„Dann kann ich es eben nicht.“

 

 

Die feindseligen Sanften: Wie alles begann

 

Es war Jahre vorher.

 

Mitten in der Rheinebene stand ein großes Gehöft, das allerdings etwas heruntergekommen war.

 

Stand man in dem großen Innenhof, fiel sofort die große Scheune - eine Fachwerkscheune auf.

 

Durch das große Tor sah man zwei Wagen stehen. Gegenüber war ein Wohnhaus zu sehen, durchaus stattlich gewesen, auch wiederum Fachwerk, wie es üblich war in diesem Tal. Zwischen dem Fachwerk sah man noch die Reste der blauen Farbe und da, wo es bröckelte, sah man, dass hinter der einen stattlichen Fassade, Faschingen und Kuhdung das Fachwerk schlossen.

 

Vor diesem Haus saß eine alte Bäuerin auf einer Bank mit einem sehr griesgrämigen Gesicht, regungslos.

 

Jeweils rechts und links vor dem offensichtlichen Hauptgebäude konnte man kleinere Wohnungsbehausungen sehen, die alle die gleiche Bauweise hatten, deutlich kleiner waren, aber sich in der Schäbigkeit durchaus glichen. Hier sah man allerdings keine Reste von Farbe mehr.

 

Zu beobachten war geschäftiges Treiben. Viele erwachsene Männer liefen herum. Die einen offensichtlich als Bauern tätig, andere reparierten Wägen, eine Schmiede war hinten zu beobachten. Genau dieser Schmiede und dem Wohnaus nebenan gilt unsere Aufmerksamkeit.

 

Eine junge Frau mit einem kleinen Kind auf dem Arm kam aus dem Wohnhaus gegenüber der Schmiede und ging zu der griesgrämigen Bäuerin auf der Bank.

 

„Mutter, ich habe jetzt das Quittengelee fertig.“

 

Die Bäuerin brummte zurück: „Es wurde ja auch Zeit. Teile aus, an alle.“

 

„Ja, Mutter“.

 

Die Bäuerin schaute abneigend zu dem Kind, was die junge Frau trug. Sie sagte: „Im Übrigen ist das völlig überflüssig gewesen. Wir haben genug Münder zu ernähren. Besser arbeiten wirst Du dadurch auch nicht.“

 

Die junge Frau schlug die Augen nieder und flüsterte: „Ja, Mutter“ und sie ging.

 

Hinten in der Schmiede sah man den Schmied gerade mit voller Wucht ein Metallstück bearbeiten. Neben ihm standen zwei wunderhübsche Mädchen, die faszinierend auf die Funken schauten. Manchmal versuchte eine von den beiden diese zu fangen.

 

Der Schmied arbeitete sehr kräftig und es gingen permanent andere Männer ein und aus, die die Metallstücke offensichtlich für das Gehöft bestellt hatten. Keiner war freundlich mit ihm ausser seine Töchter.

 

Ein Mann, der offensichtlich als Bauer tätig war, kam herein und fragte nach einem bestellten Stück. Der Schmied gab ihm das und er wollte schon wieder hinaus gehen, da drehte er sich noch einmal und sagte zum Schmied: „Du hast ja richtig Glück, dass Du meine Schwester geheiratet hast. Welch schäbiges Leben Du sonst hättest. Sei froh und glücklich, dass Du hier sein darfst.“

 

Der Schmied wollte gerade den Mund aufmachen, um zu antworten, doch der Bauer drehte sich um und ging raus.

 

Eines der Mädchen sagte zu ihm: „Sage nichts, Papa.“

 

 

Die feindseligen Sanften: wie sie ihn brachen

 

Jahre später: Die kleine Familie, die beiden Töchter und der Sohn, der mittlerweile sechs oder sieben Jahre alt war, saßen morgens am Frühstück. Der Vater sagte nichts.

 

Die Mutter, die gerade die Tagesarbeit an ihre Töchter abgegeben hatte, weil sie selbst zu viel hatte, sagte zu ihrem Sohn: „Junge, ich gebe Dir keine Aufgabe, weil Du es nicht kannst und ich bitte Dich, dass Du wenigstens nicht auffällst, damit ich mich nicht wieder für Dich schämen muss. Spiel in einer Ecke, gehe in den Wald, aber bitte falle nicht negativ auf.“ Bei diesem Satz schlurtzte die Mutter sanft.

 

Der Vater hob den Kopf und ein böser Blick kam sofort von seiner Frau zurück. Er senkte den Kopf wieder.

 

Der Sohnemann ging hinaus und er wollte zu den anderen Kindern, die schon für die Tagesarbeiten bereit standen. Jedoch haben sich diese abgewandt.

 

Er ging dann hinten zu einem kleinen Häuschen, dem Hühnerstall. Dort hatte er seine Freunde. Die Hühner mochten ihn und er spielte dann in dieser Ecke einsam und allein mit seinen Hühnern. Manchmal sah man ihn auf dem Feld Kornreste für die Hühner aufsammeln, manchmal sah man ihn im Wald kleine Körner für seine Hühner sammeln.

 

Von den Anderen war er ausgeschlossen.

 

Abends musste er dann immer an seiner Oma vorbei. Er haßte diesen verachtenden Blick und er sagte immer demutsvoll: „Guten Tag, Oma“, aber er bekam nie eine Antwort.

 

 

Der Anfang vom Ende: Die Feindseligkeit fordert Konsequenzen

 

„Ich gehe jetzt auch.“

 

Der Hauptakteur der Theaterszenen sprach diesen Satz aus.

 

Der Chef der Truppe, mittlerweile in die Jahre gekommen, schaute ihn unglaubwürdig und traurig an.

 

Sensible Beobachter sahen, dass seine Hände zitterten, die im Übrigen auch immer noch ohne Fingernägel auskommen mussten.

 

Die Truppe saß in einem stattlichen Steingebäude. Wer durch die Tür links schaute, sah auf eine große Bühne. Man konnte den großen Saal von dort aus nur erahnen.

 

Unsere Truppe - tatsächlich - hatte mittlerweile eine eigene Spielstätte, die in einem wunderbaren Park an der Ill gebaut war.

 

Von dem Raum aus, in dem die ganze Truppe saß, sah man einen Park mit wunderhübschen kleinen Häuschen, die offensichtlich in den Pausen dienten: für Getränke und für Nahrung war für die Gäste des Schauspiels gesorgt. Mehrere Brunnen plätscherten draußen und man sah die Ill vorbeischlängeln.

 

„Du gehst jetzt auch?“, fragte der Chef in einem feindseligen Ton.

 

Der Mann, der von Anfang an dabei war, sagte: „Ja, ich gehe, es reicht. Du hast Großvater ins Grab gebracht. Du schindest uns alle hier. Du bist grausam.“

 

Der Chef der Truppe sprang auf und kläffte wütend: „Ich habe Euch doch groß gemacht. Hat einer von Euch Hunger? Ihr seid bekannt, weit, weit über dieses Tal hinaus. Wir haben alle Wohnungen, so wie wir sie nie als Kinder hatten. Wir sind die Besten in unserem Fach. Was wollt ihr mehr? Was wollt ihr mehr? Ich verstehe nicht, dass Du gehst.“

 

Eine junge Tochter, die aus der Truppe heraus geboren war, stand auf und sagte: „Wir wollen atmen und leben. Wir wollen nicht getrieben sein. Wir wollen nicht immer an uns zweifeln. Wir wollen nicht klein gemacht werden.“

 

Da stand auch ein Anderer auf und sagte: „Weißt Du, was ist schon das bißchen Brot und das bißchen Wohnung, wenn ich mich klein fühle. Ich kann bei Dir kaum atmen. Du findest nichts gut an mir.“

 

Der Chef der Truppe fror ein. Er drehte sich um und sie sahen es alle: Er weinte leise.

 

Er flüsterte: „Ich habe Euch doch groß gemacht, nicht klein.“

 

Er hörte gerade noch, ehe seine innere Stimme, die wir ja kennen, aufjaulte: „Ja, Du hast uns groß gemacht und innen drin klein.“

 

 

Du musst gehen

 

Auf dem Gehöft lag Schnee und es war bitter kalt.

 

Sogar die Bank vor dem Herrenhaus war leer.

 

Die Griesgrämige war offensichtlich im Haus.

 

Im Wohnhaus der Schmiede saßen die fünf zusammen. Die beiden Töchter, von der die eine sehr ausgemergelt aussah, räumten gerade den Tisch ab. Die Ausgemergelte setzte sich neben ihre Mutter und die Mutter gab ihr ein sanftes Lächeln. Die andere Tochter, die Älteste, fragte die Mutter: „Mutter, darf ich jetzt zu meinem Verlobten gehen?“ Die Mutter schaute kurz auf und sagte: „Ja.“

 

Sie verließ den Raum.

 

Ihr Sohn wollte gerade aufstehen, er war jetzt ein junger Mann.

 

Die Mutter sagte: „Setz Dich nieder.“

 

Der Sohn schaute verdutzt. Üblicherweise ging er dann auch seiner Wege, fast immer noch am Hühnerstall vorbei.

 

Er setzte sich wieder.

 

Die Mutter schaute in die Leere vor sich und sie flüsterte: „Du musst gehen.“

 

Man sah den Schmied zucken. Er sagte jedoch nichts.

 

Die Mutter flüsterte abermals: „Du musst gehen.“

 

Der Sohn fragte: „Schmeißt Du mich hier raus?“

 

Sie sagte: „Ja, Du trägst nichts bei zum Hof. Dein Zeug da“ - in der Ecke stand eine sehr ärmliche Laute und kleine Lederbälle - „sind überflüssig. Die bringen nichts. Du bist einfach überflüssig. du bist nicht von hier. Du musst gehen, es tut mir sehr leid.“ und sie weinte.

 

Der Schmied hob an und wollte etwas sagen.

 

Die Mutter flüsterte leise: „Halt Deinen Mund, mein Mann. Halt Deinen Mund, Du bist auch nicht von hier.“

 

Die jüngere Tochter weinte mittlerweile.

 

Die Mutter legte dem Sohn eine kleine Börse hin und sagte: „Das ist mein ganzes Erspartes.“

 

Der Schmied schaute wieder, dieses mal sehr traurig auf, sagte jedoch wieder nichts.

 

„Nimm es und geh, geh.“

 

 

Die Leere in der wunderbaren Größe:

Die Requisiten verwandeln sich in Krempel

 

Unser Lautenmann saß auf der großen Bühne und er sah in den Zuschauersaal vor ihm.

 

Nur ein kleines Lichtlein erhellte die Bühne.

 

Es hallte in seinen Ohren: „Es tut mir leid, ich gehe jetzt dann auch, auch wenn ich der Letzte bin.“

 

Das letzte Mitglied der Truppe hatte ihn jetzt verlassen.

 

Er saß in diesem eigenen Theatersaal auf dieser wunderbaren Bühne. Hinter den Vorhängen die ganzen Requisiten, der wunderbare Park, seinen Erfolg.

 

Sie hatten ihn alle verlassen.

 

Er saß da und man musste schon sehr gut beobachten, dass er noch atmet.

 

Es wäre jetzt unfair, Ihnen hier die Wörter und die Grausamkeit seiner inneren Stimme zu erzählen, wahrscheinlich auch überflüssig, denn Sie erahnen es.

 

Nach einer ganzen Weile stand der Lautenmann auf und ging in den Requisitenraum. An der linken Wand war ein wunderbares Holzregal aufgebaut, das voller Bücher war.

 

Sie wissen sicherlich, dass es damals unüblich war, dass es ausserhalb der Klöster diese Menge von Büchern gab.

 

Er sah seine ganzen Bücher an, die er liebte und sagte: „Was soll das jetzt? Was bringt’s?“

 

Und dann hörte man ihn flüstern: „Was soll ich jetzt mit dem Krempel?“

 

Hier war der Beginn des Krempelmannes.

 

 

Selfmade-man: „Ich zeige es Euch allen.“

 

Vor dem Gehöft die Jonglierbälle, die Laute und die Geldbörse in der Hand, drehte er sich noch einmal um, schaute noch einmal alles an und er flüsterte: „Nie mehr, nie mehr komme ich hier her.“ Er war hier geboren. Und er gehörte nicht dazu.

 

Etwas weiter im Süden, fast schon bei den Eidgenossen, sah man ihn dann in einem Kloster anklopfen.

 

Er wurde eingelassen und er bat beim Abt vorzusprechen.

 

Nach einem - durchaus stundenlangen - Gespräch rief der Abt das Kapitel zusammen, von dem nur Bruchstückhaftes bekannt ist.

 

Der Abt schlug offensichtlich dem Kapitel etwas vor.

 

Einen Aufschrei, den man draußen hörte, löste dieser Vorschlag aus.

 

Man hörte Sätze wie:

„Das geht nicht!“

„Das haben wir noch nie gemacht!“

„Wir können das nicht!“

 

Es wurde nach einer Weile still und man hörte den Abt flüstern.

 

Leider ist unbekannt was er gesagt hat.

 

Jedoch: Unser Überflüssiger wurde aufgenommen und wie ein Mönch, der kein Mönch war, wurde er in den nächsten Jahren in diesem Kloster gebildet nach den Regeln dieses Klosters.

 

Nach Jahren sah man ihn dann mit dem Abt an den Toren des Klosters stehen, seine Laute auf dem Rücken, seine Jonglierbälle in einem Sack.

 

Der Abt übergab ihm seine leere Geldbörse.

 

Der Abt schaute ihn an, fuhr ihm zärtlich über die Wange und der Jongliermann sagte: „Danke“.

 

Was dann passierte, wissen wir leider nicht. Einige Jahre später kam er dann zu der bekannten Theatertruppe.

 

 

Das Fehlende im Publikum: Zur Überwindung der Feindseligkeit

 

Der Krempelmann saß immer noch an der Trauerweide. Hinter ihm seinen Krempel.

 

Man beobachtete eines Tages:

 

Ein kleines Mädchen, wie es dort hinkam wusste mir niemand zu erzählen, tauchte unter der Trauerweide auf.

 

„Hallo!“

 

Der Krempelmann drehte seinen Kopf zu dem kleinen Mädchen. „Hallo“, krächzte es, denn er hatte schon lange nichts mehr geredet.

 

„Ist das Dein Krempel?“

 

Der Krempelmann zuckte etwas zusammen, so, als müsste er sich erinnern und sagte: „Ah, eh, ja.“

 

Das kleine Mädchen: „Das ist ein schöner Krempel.“

 

Man hörte den Krempelmann flüstern: „Na ja.“

 

Das kleine Mädchen hüpfte zum Krempel und fing an einzelne Teile anzuschauen, im Krempel zu wühlen und kam fröhlich zurück und sagte: „He, wie heißt Du?“ Der Mann lächelte, hob die Schultern und sagte: „Man nennt mich hier den Krempelmann.“ „Oh“, sagte das Mädchen, „das ist ein schöner Name.“ Da musste sogar der Krempelmann lächeln, jedoch er wurde gleich darauf wieder ernst und sagte: „Wenn du wüsstest, …“

 

Das Mädchen schaute ihn an und sagte: „Ich würde es gerne wissen. Erzählst Du mir?“

 

Man erzählte sich dann in der Gegend folgende Geschichte:

 

Wie es auch immer dort hinkam, das kleine Mädchen besuchte die ehemalige Spielstätte. Diese war mittlerweile überwuchert und die Natur hatte ihre Rechte im Park wieder erobert.

 

Sie stand auf der Bühne, sah den Saal und ging in die Requisiten. Da stand noch mancher Krempel herum. Die Bücher waren weg.

 

Später sah man sie in den Sumpfgebieten auf kleinen Inseln herumhüpfen und sie entdeckte dort auf vielen Inseln immer wieder kleine Krempelhaufen.

 

Sie wusste, dass dies alles Häufchen waren die dem Krempelmann einmal gehörten.

 

Man erzählt sich, dass sie später zum Krempelmann zurück hüpfte.

 

Er saß immer noch so da, wie sie ihn gefunden hatte.

 

Sie sagte: „Wow“. Er drehte wiederum den Kopf und dieses Mal räusperte er sich vorher und sagte: „Hallo“ und sie sagte: „Wow“.

 

Der Krempelmann blickte erstaunt. Er verstand das Wow offensichtlich nicht.

 

Sie sagte: „Sei nicht so eitel. Du weißt, was ich meine.“

 

Der Krempelmann schaute ins Leere.

 

Sie sagte: „Krempelmann, es fehlte die ganze Zeit jemand im Publikum.“

 

Der Krempelmann zog die Augenbrauen zusammen und sagte: „Kleines Mädchen, ich hatte sie alle im Publikum: Bischof, Bürgermeister, Gemeinderat, reiche Bürger, Arme, Hungernde, kleine Kinder, alte Greise, Männlein und Weiblein, Leute von hier, Leute von weit weg. Ich hatte sie alle im Publikum.“

 

Das kleine Mädchen setzte ihren Kopf etwas schief und lächelte verschmitzt:

„Nein, nein, nein, einer fehlte. Der war nie da.“

 

Der Krempelmann schaute erstaunt und sagte: „Möchtest Du es mir sagen?“

 

Das Mädchen hüpfte um ihn herum und sang: „Vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht, vielleicht.“

 

„Muss ich was dafür tun?“, fragte der Krempelmann. „Weißt Du, ich bin gut im Tun.“

 

Das Mädchen schaute ihn an und sagte: „Ja, ich weiß. Ja, Du musst etwas tun.“

 

Der Krempelmann regte sich. Einige Knochen krachten, weil er sich schon lange nicht mehr bewegt hat.

 

Der Krempelmann sagte: „Ja, ich tue gerne etwas für Dich.“

 

Das kleine Mädchen lächelte etwas verschmitzt und sagte: „Na ja, also gut.“

 

„Also“, sagte der Krempelmann, „was möchtest Du nun endlich, damit Du mir sagst, wer im Publikum fehlte?“

 

Das kleine Mädchen schaute auf und es sah plötzlich anders aus.

 

Dann sagte sie: „Du.“

 

Der Krempelmann schaute sie fragend an: „Was Du?“

 

„Ja“, sagt sie, „Du fehltest in Deinem Publikum. Du weißt bist heute nicht, was Du da getan hast. Du warst immer nur die andere Seite.“

 

Der Krempelmann stand auf, seine Beine zitterten leicht.

 

Der Krempelmann sagte: „Aber, da wo ich herkomme ist das verboten.“

 

Das kleine Mädchen schaute etwas herablassend und sagte: „Da, wo Du herkommst ist alles verboten und Du hast Dich übrigens nie daran gehalten.“

 

Das Mädchen hüpfte schwingend weg.

 

Man erzählte mir dann, dass der Krempelmann später manchmal in dem kleinen Dorf und in den nächsten drei weiteren wieder gesehen wurde.

 

Mit seiner alten Laute, die er notdürftig repariert hatte, spielte er in einer Ecke.

 

Na ja, das Spiel war nicht mehr so gut, aber er spielte.

 

Nur die sehr Aufmerksamen merkten, dass seine Fingernägel ganz normal aussahen.

 

 

 

Für die Krempelmenschen dieser Welt.

 

 

jd

 

 

Weihnachten 2023

 

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