2002: Vom Anpassen
Es passierte vor langer, langer Zeit in einem Wald am Oberrheingraben. Im Herbst platzte eine Akazienbohne und der Samen segelte vom Wind getragen in Richtung Boden. Einer der Samenkörner betete: „Oh Gott, lass’ mich nicht so sein wie die anderen, lass’ mich an einen besonderen Platz fliegen.“ Die Zufälle des Windspiels ließen das Samenkorn an einem Wegekreuz, an dem sich drei Wege kreuzten, niedergehen. Der Samen wurde zum Keimling und alsbald stand schon ein 10 cm hohes Akazienbäumchen neben dem Wegekreuz. Es war ein besonderer Platz, da an diesem Weg viele Handwerker vorbei kamen, die oft hier rasteten. Es war die Zeit des großen Kathedralenbaus und so kamen auch Zimmerleute vorbei: die einen aus Spanien, die gegen Norden zogen und die anderen aus England, die gegen Süden zogen. Die Akazie war sehr stolz, wie der Zufall es so wollte.
Die ersten drei Zimmerleute, die sie hörte, redeten über ... Holz. Zimmerleute reden immer über Holz. Sie sagten, dass die Eiche jetzt besonders wichtig wäre, um das Dachgebälk zu halten und beschrieben die Eiche ziemlich genau.
Die Akazie dachte: „Jetzt ist es wichtig, eine Eiche zu sein.“ Und, da die Zimmerleute die Eiche genau beschrieben hatten, ließ die Akazie sofort einige Äste wachsen, die wie eine Eiche aussahen. Sie war sehr stolz und dachte: „Jetzt bin ich wichtig.“
Es kamen Monate später Zimmerleute vorbei, die die Qualitäten der Esche lobten. Die Akazie erschrak, wandte sich um einen halben Kreis und ließ nach vorne wiederum Äste wachsen, die wie Eschenäste aussahen.
Die Zimmerleute, die mit ihren verschiedenen Moden aus verschiedenen Ländern kamen, lobten reihum Ulme, Buche, Zwergesche, Kirsche, Kastanie und deren Vorzüge für das Dachgebälk. Unsere Akazie passte sich jedes mal an, wandte sich jedes mal um einen halben Kreis und ließ neue Äste der entsprechenden Modeholzform wachsen. Über das Ergebnis war sie jedes mal sehr stolz, da sie sehr gut zuhörte, was die Zimmerleute von ihr verlangten und sie bekam jedes mal die Form des Baumes gut hin. Sie träumte von einer Karriere als Balken in der Kathedrale, in einem reichen Kaufmannshaus, vielleicht sogar einer Bibliothek und sie roch schon Weihwasser, feines Essen und den Geruch von staubigen Büchern.
So verging Jahr um Jahr, Winter um Winter und unsere kleine Akazie mit den vielen verschiedenen Ästen wuchs sehr knorrig und sehr viele verschiedene Äste waren an ihr dran. Aber sie war stolz auf sich und sich dachte an die vielen Akazienschwestern und –brüder, die im Wald standen und als Brennholz oder als Ufersicherung enden werden. Sie freute sich auf ihr eigenes Schicksal und träumte immer wieder von diesen großen Kathedralen, den Herrenhäusern, den Bibliotheken und dachte: „Ich habe es gut gemacht, ich habe es richtig gemacht.“
Sie war zufrieden mit sich, bis ...
... zwei kleine Bauernkinder angelaufen kamen und sich am Wegekreuz niederließen. Das Mädchen sagte: „Du, hier sind wir genau richtig. Hier müssen wir auf Vater warten.“ „Bist du sicher?“ fragte ihr Bruder und das Mädchen zeigte gedankenverloren auf die Akazie und sagte: „Na klar, das ist doch das Wegekreuz bei der Krüppelakazie.“ Die Akazie schüttelte sich und fragte sich, ob sie richtig verstanden hatte. Der Bruder schaute die Akazie genau an und sagte: „Stimmt es ist die Krüppelakazie.“ Die Akazie jedoch verstand die Welt nicht mehr. Krüppelakazie, sie hieß bei den Bauern Krüppelakazie. „Ach“, dachte sie, „das sind nur die Bauern und die sind dumm.
Am anderen Tag kam ein Mann und man sah sofort: ein Handwerker. Er ließ sich am Wagekreuz nieder und wartete. Einige Stunden später kam aus der anderen Richtung sein Kompagnon und sie winkten sich von Weitem zu. Der andere rief: „Sehr schön, du hast es gefunden, das Wegekreuz bei der Krüppelakazie.“ Der Akazie wurde es kalt ums Herz. Sie gingen von dannen.
Der Akazie wurde angst und bange. Auch die Handwerker nannten sie Krüppelakazie. Sie sah die großen Träume vom Balken sein in der Kathedrale oder in Herrenhäusern und Bibliotheken vor ihren Augen schwinden. Plötzlich spürte sie die wahnsinnigen Schmerzen in ihrem Stamm von den vielen Halbkreiswindungen, die sie durchgemacht hatte. Auch spürte sie in jedem verformten Blatt die Energie, die verloren geht, ein anderes Blatt wachsen zu lassen als ein Akazienblatt. Sie fühlte sich schrecklich krank. Die Schmerzen blieben, der Winter kam und die Akazie weinte bitterlich (Fortsetzung Weihnachten 2003).