2007: Vertrau der Tränenspur – Vom Wesen des Abschieds

Es war vor langer, langer Zeit in jenem Land, wo die Störche herkommen.

In diesem Land wurden die Störche jahrelang auf ihre Hauptaufgabe vorbereitet: Die kleinen menschlichen Wesen, die aus einem streng bewachten Tal im Storchenland kamen, zu den Menschen zu bringen. Die jungen Störche waren dort in einer strengen Schule. Es war nicht immer leicht, ein guter junger Storch zu sein.

Einer dieser jungen Störche wollte besonders gut sein. Dadurch hatte er aber auch einen besonders kritischen Kopf entwickelt und er wollte mitdenken. Die älteren Störche sahen - wie alle Lehrer dieser Welt - dies nicht so gern. Aber er war fleißig und lernte mit. So wuchs unser junger Storch langsam zur Reife und zum großen Flug mit dem Menschenkind an.

Die letzten Monate vor dem großen Abflug – das hatte sich schon bei den jungen Störchen rumgesprochen – hatten sie eine Reihe von Regeln zu lernen, was sie bei ihrem großen Flug zu beachten hatten.

Bisher hatten sie die ganze Welt auswendig gelernt, wo der Himalaya war, wo die großen Meere waren und die jungen Störche kannten die Erde in- und auswendig.

In den letzten Monaten – das wussten sie auch – kam der gestrenge älteste Storch und brachte ihnen diese Regeln bei.

Unser Storch lernte folgende Regeln:

Fliege direkt zu dem Ort, zu denen das Menschenkind gelangen muss; mache keinen Umweg.
Schau das Menschenkind nicht an, schaue geradeaus, fliege schnell.
Lege es am Giebel des Hauses ab und fliege sofort weiter.
Fliege dann einmal um die ganze Welt und komme dann sofort ins Storchenland zurück.

Unser ehrgeiziger, kritischer Storch fand diese Regeln komisch. Er fragte sich: „Warum habe ich dann die ganze Erde gelernt, wenn ich sie dem Menschenkind nicht zeigen darf? Warum muss ich einfach einmal um die Erde fliegen? Ich kann doch direkt zurück kommen.“

Natürlich – er dachte ja kritisch – fragte er den ältesten Storch. Alle Anderen in der Klasse erstarrten und es war Kathedralenstille. Jeder wusste, dem ältesten Storch stellte man keine Fragen! Er war nun wirklich von der alten Schule. Alle erwarteten Schreckliches.

Doch der älteste Storch ging zu dem jungen Storch, legte ihm einen Flügel um die Schulter und sagte: „Junger Storch, ich verstehe Deine Fragen. Ich kann Dir aber darauf keine Antwort geben. Ich kann Dir nur sagen, halte sie ein... und glaube mir, es ist ein sehr guter Rat!“

Dabei hatte der älteste Storch nasse traurige Augen. Alle jungen Störche waren völlig erstaunt. So kannten sie den ältesten Storch gar nicht und auch unser junger Storch war völlig verwirrt. Ab dem Moment hörte er im Unterricht nicht mehr zu und dachte an die Regeln und an das, was der älteste Storch gesagt hatte.

Eines schönen Tages war es nun soweit. Die Abschlussprüfung war geschafft, die jungen Störche warteten auf ihr Päckchen mit dem Menschenkind und waren zum Start bereit. Alle waren nervös, alle haben sich jahrelang vorbereitet. Nun war endlich der Tag da. Alle hatten ein wenig Angst.

Unser junger Storch war seltsam still und ihm war mulmig. Gleichzeitig war er froh, dass es endlich soweit war.

Die ganze Storchengemeinschaft war angetreten: Das ganze Tal stand voller Störche. Aus dem Tal, wo Menschenkinder wuchsen, brachte man die Päckchen der Menschenkinder hoch. Beim Überreichen der einzelnen Menschenkinder klapperten alle Störche durch das Tal. Das Geräusch ging im Storchenland über alle Berge und im ganzen Storchenland war es in dieser Zeit still. Sogar der Wind hörte in dieser Zeit auf, zu wehen.

Nun war es endlich an unserem jungen Storch. Er bekam sein Päckchen und er flog ab. Er hatte auch den Ort und das Haus erhalten, wo er sein Päckchen abliefern musste. Da er sich jahrelang darauf vorbereitet hatte, wusste er den Weg ganz genau. Er flog aus dem Storchenland hinaus und er wusste, hinter den ersten Gebirgen geht es dann rechts sonnenwärts über ein Steppenland.

Er flog in der richtigen Höhe und sah von ganz oben die wunderschöne Erde. Er war so ergriffen, dass er sein mulmiges Gefühl vergaß. Er schaute sich die Erde an, sah die Gebirge, die Steppen, sah ganz viele interessante Wesen umher laufen und sah auch Gewässer, Flüsse, Bäche, die ihn natürlich besonders interessieren, denn dort - hatte er gelernt - gibt es die gute Nahrung für ihn.

Bei all dieser Schönheit war er so ergriffen, dass er tief durchatmete während dem Flug und beim Ausatmen fielen ihm plötzlich - wie vom Blitz getroffen - die Regeln wieder ein: „Schau das Menschenkind nicht an, schaue geradeaus, fliege schnell.“

Er erinnerte sich an die komische Antwort vom ältesten Storch auf seine Fragen und plötzlich empfand er einen unbändigen Drang, das Menschenkind anzuschauen. Er zögerte noch.

Der älteste Storch hatte gesagt: „Halte sie ein und glaube mir, es ist ein guter Rat.“

Doch dann besann er sich auf seinen Ehrgeiz, auf sein kritisches Denken, auf das er so besonders stolz war, er sagte: „Ich wollte immer ein besonderer Storch sein. Komm, habe Mut, schau das Menschenkind an!“

Und er schaute, während er über die Steppen weiterflog, das Menschenkind an. Zwei kleine Äuglein schauten ihn interessiert an und es lächelte ihm ein liebes Gesicht entgegen. Kleine Patschhändchen wackelten und das kleine Menschenkind lachte, spielte mit seinen Zehen. Er war völlig fasziniert. Er dachte gar nicht mehr daran, das Menschenkind nicht anzuschauen und schaute es nun permanent an. Bei seiner ersten Pause am Bach legte er das Menschenkind vorsichtig nieder und hat sich zur Stärkung ein paar Fische gefangen.

Er schaute sich um und er kannte diesen Bach nicht wirklich, sondern er hatte nur gelernt, dass dieser existiert und er fand ihn viel schöner als das, was er gelernt hat. Er hat noch einen kleinen Fisch gefangen und ging zum Menschenkind, welches still im Päckchen lag. Er gab ihm den Fisch und das Menschenkind fing an zu schreien. „Hm“, dachte der Storch, „das war wohl nicht das Richtige.“

Er ging zurück zum Bach, nahm etwas Wasser in seinen Schnabel und versuchte es damit. Das Menschenkind trank und sah zufrieden aus. „So“, sagte der Storch, „komische Storchenschule. Man lehrt uns das alles nicht. Gut, dass ich ein kritischer Storch bin.“

Der Storch nahm das Päckchen und flog weiter. Er wusste, er hatte noch vier Tage Flug vor sich und er wusste auch, bei Nachteinfall würde er über ein sehr raues Gebirge fliegen, wobei hinter dem Gebirge ein größeres Sumpfland beginnen würde. Als es dunkel wurde, flog er zur Nachtrast nieder und legte das Menschenkind vorsichtig neben sich. Eigentlich hatte man ihm gelehrt, keine Pause zu machen, aber er wollte es dem Menschenkind gemütlich machen. Vorsichtig umschlang er das Menschenkind mit seinen Flügeln, so dass es gut warm hatte.

Das Menschenkind schlief und unser Storch schlief mit ihm ein.

Am nächsten Morgen wachte unser Storch früh vom Geschrei des Menschenkindes auf. Er sah es an - er war wieder ergriffen - ging schnell zum Bach, holte Wasser und das Menschenkind lächelte wieder. Der Storch hat noch einige Fische gefangen und flog los, um an sein Ziel zu gelangen.

Doch irgendein Impuls ließ ihn noch einmal inne halten. Jetzt hatte er die ganze Welt gelernt, er wusste wie sie aussah aber er wusste sie viel schöner. Er hatte jetzt so ein liebes Menschenkind bei sich, dass er - dies spürte er genau - es mochte und er hatte die Fähigkeit, dem Menschenkind die ganze Welt zu zeigen. So kam er auf die Idee, auch die 2. Regel zu brechen. Sollte er jetzt nicht über die ganze Welt fliegen? Sollte er jetzt dem Menschenkind nicht alles zeigen? Die Adresse kannte er ja, er würde es halt später abliefern. Der Storch flog auf den ersten Baum und setzte sich zum Nachdenken hin. Natürlich hatte er dabei immer ein Auge auf sein Menschenkind. Er saß über einen Tag da, wobei er natürlich nicht vergaß, jedes Mal dem Menschenkind etwas zu trinken zu geben. Dann hatte er entschieden: Er flog runter, nahm das Päckchen mit dem Menschenkind und voller Freude flog er los über die ganze Welt. Es begann eine wunderbare Zeit für den Storch und auch für das Menschenkind.

Das Menschenkind wuchs schnell und konnte jetzt schon aus dem Päckchen seinen Kopf herausstrecken und die ganze Erde sehen. Der Storch hatte großen Spaß daran, von ganz oben auf die Bergspitzen zu fliegen. Das Menschenkind jauchzte vor Freude.

Er hob nach oben ab, flog über die ganzen Täler hinweg zu den Seen, landete am Rande von Seen und das Menschenkind lachte und schaute den Storch ganz lieb an.

Der Storch wurde immer sicherer, dass seine Entscheidung gut war und er merkte auch, das Menschenkind gedeihte und wuchs. Beide mochten sich sehr.

Der Storch lehrte dem Menschenkind das Fischen. Man sah das Menschenkind mit seinen kleinen staksigen Beinen etwas unelegant in den Sümpfen herum stochern, aber es hatte gelernt, mit seinen Händchen blitzschnell Fische zu fangen, so wie die Störche mit ihrem Schnabel.

Unser Storch war stolz auf das Menschenkind. Das Menschenkind schaute den Storch an und drückte es mit seinen Patschhändchen ganz fest an sich. Das waren die schönsten Momente. So sah man die beiden eine Weile in jeder Ecke und an jedem Fleckchen dieser Erde – außer dort, wo der Storch das Menschenkind hinbringen sollte.

Sie hatten großen Spaß miteinander und eines Tages fing auch das Menschenkind an, zu klappern. Der Storch war erstaunt, klapperte zurück und so konnten sie plötzlich miteinander sprechen. Es vergingen Jahre mit schönen Erlebnissen.

Nur einmal war etwas Komisches passiert, was das Menschenkind nicht verstand.

Einmal kam von der Gegenseite ein anderer Storch geflogen. Er flog einmal um sie herum, schaute unseren Storch sehr böse an und flog kopfschüttelnd davon. Das Menschenkind hatte fragend geklappert, warum dieser Storch so böse geschaut hat.

Der Storch sah etwas verlegen weg und klapperte, er wüsste es nicht. Das Menschenkind fand dies zwar komisch, aber es ging ihm so gut bei unserem jungen Storch, dass es diesen Vorfall einfach vergaß.

Unser Storch saß an manchen Abenden still da und wenn es ihm nicht so gut ging, dachte er an die Adresse, die er im Kopf hatte. Ein schlechtes Gewissen hatte er schon, weil er eigentlich seinen Auftrag nicht erfüllte und je länger er mit dem Menschenkind um die ganze Welt flog, desto weniger verspürte er den Drang, das Menschenkind abzuliefern. Im Gegenteil: Es erschien ihm unmöglich und so umflog er den Ort, an dem er das Menschenkind abliefern musste, weiträumig.

Man sah die Beiden jeden Abend irgendwo Quartier beziehen; in einem Baum, an einer Höhle, auf einem Kirchturm und es war so rührend, wie sie sich aneinander schmiegten und gemeinsam einschliefen. Es war eine Freundschaft, wie es sie kaum gibt. Beide waren zufrieden, beide waren erfüllt von der Entdeckung der Erde und so machten sich beide irgendwann keine Sorgen mehr. Das Menschenkind verstand zwar nicht, warum es mit dem Storch lebte und von oben herab sah es oft andere Menschen, die anders lebten. Allerdings war es nicht so schlimm für das Menschenkind. Der Storch hatte manchmal schlechte Träume und ein schlechtes Gewissen, aber am anderen Morgen war das alles weg und so ging es weiter.

Eines Morgens jedoch kam das Menschenkind dem Storch so schwer vor. Der Storch hatte schon mehrere Wochen gespürt, dass die Flügel ihm am Abend weh taten und er hatte Mühe, weil das Menschenkind wuchs.

Das Menschenkind - der Storch hatte bisher immer eine Ausrede gefunden - interessierte sich zunehmend für andere Menschenkinder, die unten auf der Erde liefen und in Häusern wohnten. Auch große Menschen gab es da. Bisher hatte er immer eine Ausrede gefunden, nicht zu nahe an die Wohnung dieser Menschen heran zu fliegen und sagte, dort gäbe es keine Fische und die Fische bräuchten Ruhe, deswegen wäre es besser, die Beiden wären allein.

Der Storch hatte mittlerweile dem Menschenkind alles beigebracht, was es von der Erde wusste. Somit war auch das Menschenkind zu einem kritisch denkenden Menschen groß geworden.

Eines Tages am Abend - sie waren wieder weit weg von den menschlichen Wohnungen angekommen - klapperte das Menschenkind: „Sag mal, wie machen es denn die anderen Menschen? Du sagst immer „Da wo keine Ruhe ist, sind keine Fische“. Wie essen die denn?“

Und der Storch merkte, diese Frage könnte von ihm sein. Er wurde ein wenig traurig und klapperte zurück: „Ich weiß es nicht.“ Das Menschenkind lachte klappernd: „Du behauptest das nicht zu wissen? Das glaube ich Dir nicht. Du weißt doch alles!“ Der Storch war verlegen und klapperte „Ich werde es Dir morgen sagen.“, in der Hoffnung, dass das Kind alles vergaß.

Am nächsten Morgen war jedoch das Kind als erstes wach, rüttelte am Storch und klapperte: „So, Du willst es mir sagen.“ Der Storch klapperte „Was will ich Dir sagen?“

„Ja, wie die anderen Menschen sich ernähren!“ Und der Storch blickte traurig. „Ich weiß es nicht.“ „Oh ja“, sagte das Menschenkind. „Endlich etwas, was Du nicht weißt. Komm, lass uns nahe an sie heran fliegen. Die sehen doch alle so nett aus. Ich werde denen winken und lächeln und wir fragen sie.“

Dem Storch machte das Angst, aber er hatte keine Wahl. Er musste fliegen. Er nahm es in das Päckchen und sagte kein Wort mehr, sondern schaute sehr böse. Diesen Blick kannte das Menschenkind gar nicht und unterwegs fragte es, „Sag mal, warum schaust Du so?“. Der Storch antwortete unwirsch „Sei still und lass mich in Ruhe!“ Das Menschenkind erschrak, denn so kannte es den Storch nicht. Es weinte. „Ich wollte Dir nicht weh tun.“ Der Storch merkte, was er angerichtet hatte, weinte auch und sagte. „Nein, nein, ich auch nicht. Es tut mir leid!“

Irgendwie spürte das Menschenkind, dass es nicht gut war, zu den Menschen zu fliegen und sagte: „Komm, lass uns wieder in die Berge fliegen. Wir bleiben heute alleine.“ Sofort war der Storch wieder begeistert und das Menschenkind dachte: „Oh, das ist gut so.“

Eine Woche später sagte das Menschenkind jedoch wieder: „Du, wir sollten jetzt wirklich mal zu den Menschen fliegen.“ Der Storch hatte wieder diesen Blick. Nur diesmal hatte das Menschenkind sich vorgenommen, nicht nachzugeben.

Der Storch flog still und die Luft war zum Zerschneiden. Er flog in das nächstgelegene Dorf und setzte das Menschenkind hinter dem ersten Bauernhof nieder. Das Menschenkind ging fröhlich klappernd auf andere Kinder, die auf der Wiese spielten, zu und klapperte weiter „Hallo Ihr, wie ernährt Ihr Euch?“ Die Anderen schauten völlig verdutzt dieses klappernde Kind an und liefen schreiend weg. Nur einer blieb stehen, schaute das Menschenkind an und fing an zu lachen. Es zeigte mit dem Finger auf das Kind und lief laut lachend davon.

Der Storch stand still etwas hinten dran und erinnerte sich plötzlich an die Regeln. Das Kind kam in Angst und Panik zurück, klapperte: „Was ist los? Warum mögen die mich nicht? Sind die anders als ich? Bin ich böse?“ Der Storch sagte mit traurigen Augen: „Nein, komm. Bleib bei mir. Wir fliegen weg.“ Das Menschenkind dachte „Hm, siehst Du, hättest Du dem Storch gefolgt. Er hatte doch Recht.“ Das Kind setzte sich in sein Päckchen und sie flogen wieder weg.

Abends schmiegten sie sich besonders eng einander. Da jedoch das Menschenkind ein kritisch denkendes Kind war, ließ es ab dem Tag nicht mehr los und der Storch wurde zunehmend hilfloser. Das Kind wurde größer, alle Flügel und Federn taten ihm weh und es war nicht mehr so schön. Noch ein paar Mal flog der Storch das Menschenkind zu den Menschen und jedes Mal war es schrecklich. Ab diesem Zeitpunkt begann für die beiden eine andere Zeit. Der Storch dachte öfters an den ältesten Storch und war mit seinen Gedanken immer wieder weg. Das Menschenkind forderte dann seine Aufmerksamkeit ein und der Storch war deutlich überfordert.

Er atmete oft schwer.

Als sie mal wieder im Wald waren gab es Momente, wo das Menschenkind plötzlich Lust hatte auf diese Beeren, die im Wald wachsen und manchmal - ohne dass es der Storch sah – diese auch aß. Sie schmeckten viel besser als Fisch.

Dem Menschenkind dämmerte es: „Es gibt noch viele andere Sachen, als diejenigen, die der Storch kennt.“ Es hat dann oft nächtelang nicht geschlafen, weil es dachte „Der Storch hat mich angeschmiert!“

Doch wie sollte das Menschenkind mit diesem Gedanken leben? Es hatte nur den Storch. Wenn der Storch ihn angeschmiert hat, hatte es niemanden mehr. Bei dem Gedanken blühte Angst auf und das Menschenkind spürte Panik. Und so wurden ihre Flüge zunehmend stiller und öfter kam Streit wegen Details auf. Es wurde jeden Tag beschwerlicher. Der Storch hat gespürt, es kann so nicht weitergehen. Er war jedoch hilflos.

Der Storch nahm sich jeden Abend vor, mit dem Menschenkind zu besprechen, wie es jetzt weiter geht. Und jeden Abend schaute der Storch dem Menschenkind in die Augen und dachte dabei, dass er es bald nicht mehr bei sich hat. Jeden Abend sagte er aber: „Ich rede morgen mit ihm.“ Ab da schlief der Storch schlecht und sein Leben wurde nicht mehr schön. Das Menschenkind lachte auch schon lange nicht mehr und sie blieben mittlerweile länger in einer Gegend und flogen kaum noch. Als wieder einmal ätzende Tage hinter ihnen lagen, in dem sie sich zerfleischend zerstritten um Alltagdetails, hatte der Storch sich vorgenommen „Es geht nicht mehr, ich erzähle meinem Menschenkind jetzt alles.“

Am Abend - er wollte gerade ansetzen – klapperte das Menschenkind: „Wenn Du mir jetzt nicht sagst, was Du alles weißt und was hier läuft, dann gehe ich einfach weg!“ Der Storch wurde innerlich bitter böse und sagte. „So, dann geh doch, geh doch. Ich bin gespannt, wohin Du gehst ohne mich.“ Das Menschenkind drehte sich um und ging einfach weg.

Der Storch zwang sich zu schlafen, was er natürlich nicht konnte. Ab Mitternacht hatte er so Sehnsucht nach dem Menschenkind, dass er los flog, um sein Kind wieder zu finden. Er klapperte und klapperte, wurde immer panischer, weil er es nicht finden konnte.

Doch plötzlich hörte er es zurück klappern und flog mit einer Freude hin. Das Menschenkind stand zitternd da, alleine. Beide umarmten sich und weinten. Sie entschuldigten sich und schworen sich, dass sie nie wieder so streiten werden. Sie legten sich in dieser Nacht besonders nah aneinander und hofften, dass alles wieder gut ist. Doch am anderen Morgen, als sie sich anschauten wussten sie, es wird nie mehr so, wie es war. Die Frühstücksfische schmeckten nicht und der Storch sagte traurig: „Ich erzähle Dir alles.“

Das Menschenkind erstarrte und es hörte die Geschichte aus dem Storchenland, die Regeln, was der Storch eigentlich hätte tun sollen und zu was das Menschenkind da war. Das Menschenkind erstarrte vor Wut, schaute den Storch fassungslos an. Es fielen ihm keine Wörter ein. Irgendwann kam plötzlich ein menschlicher Schrei aus seiner Brust. Diesen Schrei hörte man durch Berg und Tal. Das Kind entdeckte, dass es eine Stimme hatte. Es ging wütend auf den Storch zu, schrie und klapperte „Du hast mich angeschmiert! Du weißt gar nichts über mich. Du hast immer so getan, als wüsstest Du alles. Du hast mir gar nichts beizubringen! Du hast mir gar nichts beigebracht!“ Es schlug auf den Storch. Der Storch zitterte vor Angst, schützte sich nicht, sondern nahm einfach die Schläge an. Beide sahen sich fassungslos an und der Storch sah das Menschenkind mit furchtbar traurigem Gesicht an und sagte „Komm, ich bringe Dich hin.“

Nackte Angst stand dem Menschenkind in den Augen. Doch es sagte nichts. Es kletterte in sein mittlerweile viel zu eng gewordenes Päckchen und der Storch flog still los. Er flog diesmal, wie er es gelernt hatte Tage und Nächte und er bog eines Morgens in ein Tal ein, wo ein großer Fluss und viel Sumpf war. Dort lag das Dörfchen, wo er das Kind abliefern musste. Man hatte ihm gesagt, es war das Haus eines Menschen, der Holz bearbeitete und er sollte es vor das Haus legen, welches die Menschen Schreinerei nannten, ablegen. Er flog dahin und wollte schon das Haus anfliegen. Das Menschenkind klapperte „Nein, nein Storch, heute noch nicht. Heute bleibe ich noch bei Dir. Wir machen es morgen.“

Das Menschenkind legte seine Hände um den Storchenhals und der Storch spürte, wie er das mochte.

Sie verbrachten hinter dem Haus im Wald die Nacht. Sie taten beide so, als würden sie schlafen. Am anderen Morgen flog der Storch mit dem Menschenkind los und brachte es vor die Schreinerei. Dort standen zwei ältere Menschen, die beide traurig aussahen; als ob ihnen seit Jahren etwas fehlte. Sie schauten fassungslos auf dieses komische Paar. Der müde Storch und ein Kind, das klapperte. Doch sie spürten... Ach, sie wussten eigentlich nicht, was sie spürten. Das Kind zitterte vor Angst und der Storch ging ganz komisch für einen Storch, staksig rückwärts und blieb daneben stehen. Plötzlich flog er weg. Das Menschenkind klapperte: „Komm zurück, komm zurück.“ Die Menschen wussten nicht, was sie machen sollen, nahmen das Kind in den Arm. Das Menschenkind schlug um sich, der Storch flog höher, höher und war dann plötzlich weg.

Am nächsten Morgen - das Menschenkind hatte nicht geschlafen - guckte es aus dem, was die Menschen ein Fenster nannten, hinaus - es war es ja gar nicht gewohnt, in einem Haus zu schlafen - und sah ihn. Da stand er, der Storch. Es lief hinunter. Sie umarmten sich, sehr lange.

Doch dann kam der Mann aus dem Haus, riss das Kind vom Storch los und scheuchte den Storch fort. Das Kind weinte laut und der Storch klapperte „Willst Du es wirklich? Willst Du es wirklich? Du siehst doch, es tut Dir nicht gut.“ Das Kind wusste nicht, was es tun soll und weinte nur noch laut. Da kam die Frau heraus, nahm das Kind, schaute den Storch traurig an, schaute zu ihrem Mann und sagte: „Du weißt, was Du zu tun hast.“ Der Mann ging ins Haus und kam mit einer Flinte raus.

Das Kind riss sich von der Frau los und so standen sie nun da. Der Mann mit der Flinte, die Frau etwas hinter ihm, das Menschenkind zwischen der Flinte und dem Storch. Der Storch und das Kind weinten. Der Mann setzte an und das Kind klapperte leise „Ich will nicht, dass Du gehst, aber Du musst jetzt gehen.“ Der Storch klapperte zitternd „Ich habe es immer gut gemeint. Ich habe nicht alles falsch gemacht. Ich wollte es gut machen. Ich mag Dich so, ich mag Dich so.“ Das Kind klapperte traurig zurück „Ich Dich auch. Ich werde Dich nie vergessen!“ Der Storch sagte „Ich auch nie. Ich werde nie ein anderes Menschenkind im Päckchen haben!“ Das Kind klapperte „Geh jetzt schnell. Geh jetzt, ehe etwas Böses passiert.“

Der Storch sagte „Mein Herz zerbricht!“ Er flog weg. Und während er wegflog, hörte er das Blei noch hinter sich ins Holz schlagen. Während er weiterflog, spürte er in seinen tiefen Schmerzen, dass dem ältesten Storch das Gleiche passiert war. Er verfluchte ihn in alle Ewigkeit. Er hatte bis jetzt ein Storchenleben gehabt, wie kein anderer. Er wusste Geheimnisse der Menschen wie kein anderer Storch. Jedoch, er hatte alles falsch gemacht.

Lange, lange Zeit später in diesem Tal erzählten die Alten an Wintertagen eine komische Legende: Dass es früher in diesem Tal eine Frau gab, die alleine lebte, im Tal umher irrte und mit Störchen sprechen könnte. Man sah sie ihr ganzes Leben – sie wurde sehr alt – umher irren und mit den Störchen klappern. Die Störche flogen zu ihr und sie klapperte so, als würde sie etwas fragen. Man sah die Störche regelmäßig den Kopf schütteln und wieder wegfliegen.

Viele Störche fanden es spannend, dass es dort einen Menschen gab, der klapperte und so flogen sie - nachdem sie das Menschenkind ablieferten - auf ihrer Welttournee als letztes in dieses Tal, um mit dieser Frau etwas zu klappern, bevor sie ins Storchenland zurück kehrten. Und so haben sich in diesem Tal viele, viele Störche angesiedelt.

Wenn die Alten diese Geschichte erzählten, lachten die Kinder immer und sagten „So ein Quatsch.“ Doch die Alten schauten dann traurig und sagten: „Kinder, Ihr lacht. Hört doch mal an Vollmondtagen und Ihr werdet ein trauriges Klappern des Storches hören und schaut dann auf den Mond und Ihr seht: Sogar der Mond weint!“

Die ganz Alten erzählten sogar, dass man auf der Anhöhe an diesen Tagen einen Storch sah, der so traurig klapperte und seine Musik dazu machte und den Mond weinend. Aber wen interessieren heute noch diese alten Geschichten?

Vertrau der Tränenspur und lerne leben ...

 

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