2009: Der Schlüsselstein

Prolog: Wesentliches

Die Menschen sind komische Wesen. Sie sind (fast) die einzigen Wesen, die über sich nachdenken können. Je länger sie das tun - sowohl individuell, wie gemeinsam - über ihre schicksalhafte Geschichte nachzudenken, desto weniger finden sie Antworten.

Viele Menschen suchen heute im Spirituellen ihr Heil und finden dies oft in anderen Kulturen, in Indien, beim Buddhismus oder in anderen durchaus esoterischen Ansätzen, die oft nicht aus unserem Kulturkreis stammen.

Viele wissen dabei nicht, dass es auch Zeiten in unserer Kultur gab, wo diese Sinnfindung und die wesentlichen Fragen des Lebens hier Hochkultur hatten: Große Mystiker, Kirchenväter und andere Weisen haben sich und uns vor tausend Jahren diese Fragen gestellt.

Es waren häufig Zeiten, die mit großen Kriegswirren und doch großen menschlichen Leistungen einhergingen: Der Kathedralenbau, die Klosterblüte, die Freiheit in den Städten haben immer wieder die Menschen in dieser Epoche und in unserem Kulturkreis auf dieses Wesentliche zurück geworfen.

Für was bin ich denn eigentlich hier auf dieser Erde? Was macht mich aus?
Zu was bin ich da, für andere, für mich selbst, für die Leistung, für Ziele, für große Werke oder bin ich ein Taugenichts, ein Fauler?
Solche und andere Fragen werden die Menschheit immer begleiten. Die Lösung dieser Frage wird sich immer nur individuell in einzelnen Leben möglich machen lassen.

Seien Sie zärtlich und aufmerksam auf Ihr eigenes Leben, damit Sie Ihren Sinn er-finden können!

Kapitel 1: Die Quelle

In einem kleinen Dorf, das zwischen Straßburg und Freiburg genau in der Mitte lag, gab es seit Jahrhunderten - fast tausend Jahren - eine blaue Quelle, die als heilige Quelle verehrt wurde.

In der damaligen Zeit wussten die Leute das Blaue nicht zu erklären. Heute wissen wir, dass im Rheintal viele solcher Quellen, die nichts anderes als Grundwasserquellen waren, existieren. Das bläulich Schimmernde entsteht dadurch, dass im Grundwasser kaum Sauerstoff ist.

In jenen Zeiten in einem dieser Rheintaldörfer verehrte man nun diese Quelle als heilige Quelle. Legenden von weisen Damen und von christlichen Heiligen umrankten diese. So sprudelte diese Quelle seit Jahrhunderten. Menschen kamen zu ihr, um Linderung und Heilung zu erhalten.

Die Quelle war eingefasst in den typischen Buntsandstein und die Menschen tauchten unter offenem Himmel in ihr ein.

Die große Eiche, die mit Efeu bewachsen war, stand noch aus alter Keltenzeit neben der Quelle. Manche vor kurzem getauften Christen beteten die große Eiche noch an. Doch niemand wagte mehr, dies öffentlich zu tun. Schon lange hatte sich rechts der Quelle ein kleines Männerkloster angesiedelt, mit einer kleinen eigenen Kapelle und Klosterbetrieb. Links von der Quelle ein Frauenkloster, auch mit eigener Kapelle und Klosterbetrieb. Abt und Äbtissin begegneten sich immer wieder an der Quelle mit hohem Respekt an den großen Feiertagen.

So lebte dieses kleine Dorf im Rhythmus der Feiertage und die Quelle hatte einen geringen Bekanntheitsgrad außerhalb der kleinen Umgebung.
Doch die Zeiten änderten sich.

Kapitel 2: Der Zank

In jenen Zeiten entstanden im Rheintal große und reiche Klöster, die davon lebten, dass in ihren Kapellen und Kirchen Reliquien von berühmten Heiligen aufbewahrt wurden.

Über die Pilgerwege des Heiligen Jakob kamen viele Pilger zu diesen reichen Klöstern und spendeten. Und so hatten zu jener Zeit - ganz im Gegensatz zu dem, was einmal geplant war - Abt oder Äbtissin eine gute Karriere, die Neid, Reichtum und Konkurrenz mit sich brachten.

In den beiden Klöstern in unserem Dorf im Rheintal, rechts und links neben der Quelle, hatten mittlerweile zwei Ehrgeizlinge den frommen Abt und die fromme Äbtissin ersetzt.

Die neue Äbtissin war von edlem Blute und sie träumte für sich von einem großen Kloster. Der Abt, das jüngste Kind eines Grafen, wollte ebenfalls Karriere machen. Er zögerte, ob es in diesem Kloster sein soll oder ob er da nur schnell wieder weg kommen wollte, aber er wusste: Er musste aus dieser bescheidenen Gebetsstätte etwas ganz Großes machen.

In ihrer beiderseitigen Schlechtigkeit entdeckten sie - wie soll es anders sein - dass der eigentliche Wert des Klosters die heilige Quelle war. Sie wussten zwar beide, dass die Quelle niemandem von den beiden Klöstern gehörte, sondern exakt in der Mitte zwischen den beiden Klostern lag. Das grämte sie sehr. Und so kamen sie beide parallel auf die gleiche Idee.

Der Papst bekam gleichzeitig - damals waren Klöster direkt vom Papst abhängig - zwei Briefe, die ganz ähnlich klangen. Für die gleiche Quelle wurde von einem Abt und einer Äbtissin beim Papst beantragt, eine große Kirche über die Quelle zu bauen, damit die Pilger, so logen beide, die immer mehr geworden seien, eine bessere Unterkunft fanden und ihre Gebete besser und würdiger bei Gott ankamen. Dabei kamen nur Menschen aus der Umgebung.

Der Papst war amüsiert. Er beauftragte den lokalen Nuntius beiden Folgendes aufzuerlegen: Der Abt sollte die rechte Seite der Kirche erbauen und die Äbtissin die linke Seite der Kirche. Die Kirche sollte den Pilgern selbst und dieser heiligen Quelle gewidmet sein.

Der Nuntius überbrachte an einem regnerischen Tag beiden gemeinsam die Nachricht.

An der Quelle erklärte ihnen der Nuntius den päpstlichen Befehl und beide starrten sich hasserfüllt an, neigten den Kopf jedoch demutsvoll vor dem Nuntius und gelobten sich an diesen Befehl zu halten. Im Regen knieten sie vor der Quelle nieder. Beide hatten es sehr schwer mit dem Nuntius Gebete zu sprechen.

Klitschnass vom Regen verabschiedeten sich beide kalt und gingen in ihr jeweiliges Kloster zurück. Beide wollten dies so nicht. Beide kamen jedoch nicht auf die Idee, wie man sich davor drücken oder die andere Seite anschmieren könnte.

So beauftragten beide Handwerker, um die neue Kirche zu bauen.

Kapitel 3: Der kleine Maurer

Die Handwerker kamen und errichteten aus Holz ihre Werkstätten. Aus dem Schwarzwald wurden die ersten Buntsandsteine angeliefert, die an der heiligen Quelle behauen wurden.

Die Äbtissin und der Abt wollten natürlich in jenem neuen filigranen Baustil - heute nennen wir dies Gotik - ihre Kirche bauen. Die Handwerker jedoch, beherrschten diesen Stil nicht. Zähneknirschend stimmten sie zu, dass angefangen wurde, die Kirche im romanischen Stil zu bauen.

Eines Tages kam aus dem Dorf ein kleiner Junge, den jeder unter dem Namen Peter kannte. Er interessierte sich für die Maurer und ihre Kunst. Die Maurer lachten viel mit ihm und sie gaben ihm auch - mehr zum Spiel - ein wenig Handwerkszeug, wo er einzelne Steine behauen konnte. Der Peter kam Tag für Tag in die Werkstatt, hämmerte mit Meißel und Hammer an den Buntsandsteinen herum.

Eines Tages kam der oberste Kirchenbauer selbst vorbei und sah dem kleinen Peter zu. Irgend etwas erstaunte ihn oder fiel ihm auf. Er stand eine ganze Weile da und schaute diesem kleinen Jungen zu.

Peter war so mit seinem Stein beschäftigt, dass er ihn gar nicht bemerkte.
Abends beim Essen fragte der Oberbaumeister seine Handwerker: „Wer war der Junge?“

Sie lachten, „das ist der Peter, er kommt jeden Tag, hämmert ein wenig an den Steinen herum. Er ist hier aus dem Dorf. Er langweilt sich. Seine Eltern sind Leibeigene und wir füttern ihn ein wenig mit durch, dann hat er wenigstens keinen Hunger.“

Der Oberbaumeister sagte streng: „Ist Euch nichts anderes aufgefallen?“ Die Maurer sagten: „Nein, Herr, was hätte uns auffallen sollen?“ Der Oberbaumeister sagte: „Wisst Ihr, wir sind alle keine Spitzenmaurer. Ich hätte von euch jedoch erwartet, dass Ihr merkt, dass dieser Peter die Steine spürt, besser als wir alle zusammen.“

Die Maurer wurden still und schauten beschämt weg.

Ab dem Tag sah man den Oberbaumeister morgens früh zu den Werkstätten kommen und er nahm Peter mit. Man sah ihn mit Peter um die Grundsteine der Kirche gehen. Man sah beide miteinander reden.

Eines Tages sah man ihn auch mit Peter auf einem hohen Gerüst, das schon entlang der höchsten Mauer aufgebaut war, die mittlerweile zur Hälfte stand.
Der Oberbaumeister fragte ihn: „Peter, was siehst Du hier?“

Peter war erstaunt über die Frage und er antwortete: „Herr, ich sehe hier ein Haus Gottes wachsen, das zur Hälfte von der Äbtissin und zur Hälfte vom Abt gebaut wird. In der Mitte wird eine heilige Quelle sein, die wir hier im Dorf seit langen Jahren anbeten. Dieses Haus soll alle Pilger empfangen, die kommen werden und es soll ein schönes Haus werden.“

„Ja, Peter, siehst Du noch etwas?“, fragte der Oberbaumeister nachdenklich.

Peter zögerte etwas und sagte dann: „Herr, ich bin nur ein kleiner und dummer Junge aus dem Dorf. Ich kann nicht lesen und nicht schreiben, aber schaut: Diese Mauer ist nach hinten rechts etwas schief. Ob das Gott gefällt? Und schaut Euch den Chor an, auch der ist nicht perfekt rund gebaut. Und ich glaube, das spüre ich, wenn wir die Steine etwas anders schlagen, so können wir nachher sehr viel mehr Licht in das Haus Gottes bringen. Vielleicht hätte ich noch ...“

Der Oberbaumeister unterbrach Peter: „Peter, weißt Du, was Du Dir da erlaubst? Wir sind alle erfahrene Maurer und Du sagst, wir würden unsere Arbeit schlecht machen.“ Peter schaute oben auf dem Gerüst beschämt weg und sagte: „Ja, Herr, ich weiß, ich habe nicht das Recht dazu.“ Der Oberbaumeister sagte: „Gehe zurück in die Werkstatt und hilf den Jungs.“

In den nächsten Tagen sah man den Oberbaumeister oben auf dem Gerüst stehen mit seinen Papieren und Skizzen. Man konnte seine Anstrengung beobachten.

Der Abt, nachdem er ihn zwei Tage oben sitzen sah, kam nun zornig auf ihn zu und sagte: „Oberbaumeister, hast Du nichts anderes zu tun, als oben zu faulenzen?“ Der Oberbaumeister war still und bat um Entschuldigung.

Auch die Äbtissin ranzte ihn am anderen Morgen nach dem Morgengebet an, ob der Bau denn so weit vorangeschritten wäre, dass er es sich leisten könnte, nichts zu tun. Der Oberbaumeister entschuldigte sich wiederum und wandte sich ab.

Nach weiteren zwei Tagen des „Faulenzen“ sah man ihn ins Dorf gehen, kurz mit den Eltern von Peter sprechen und er gab an dem Morgen folgende Anweisung an alle Maurer: „Liebe Maurer, ich befehle Euch ab jetzt den Peter in die Lehre zu nehmen und ihn alles zu lernen, was Ihr könnt. Ich möchte, dass jeder Einzelne ihm das beibringt, was Eure Spezialität ist. Ich werde dem Peter auch alles beibringen, was ich weiß. Ich werde keine Widerrede dulden.“

Die Maurer redeten durcheinander und aufgeregt und einer sagte: „Oberbaumeister, Dein Wunsch sei uns Befehl, aber wir verstehen das nicht.“

Der Oberbaumeister sagte: „Ihr habt den Peter doch arbeiten sehen. Ihr habt gesehen, dass dieser Junge viel Talent hat und er spürt die Steine so gut, dass er für ein Haus Gottes der perfekte Baumeister sein wird. Wir sind gegenüber ihm alle stumpfe Handwerker. Er spürt die Steine und die innere Schönheit und er wird diese Kirche sehr viel schöner gestalten als wir alle.“

Die Maurer wussten nicht, ob sie still sein sollten oder sich vor Zorn laut ärgern. Sie entschieden sich für das Erste. Ab diesem Tag war Peter bei ihnen in der Lehre. Er war ein fleißiger Lehrling und er lernte sehr schnell all das, was die Handwerker bereits konnten. Die Kirche wuchs.

Der Oberbaumeister ging für jede neue Stufe die eine Hälfte des Geldes beim Abt holen und die andere Hälfte des Geldes bei der Äbtissin.

Er spürte genau, dass beide sehr sauer waren dies tun zu müssen und jedes mal merkte er, dass dies noch ein großer Streit geben wird.

Ein Sommer und ein harter Winter gingen vorbei.

Die Aktivitäten beim Kirchenbau wurden wieder aufgegriffen. Jetzt sah man Peter, der ein kräftiger junger Mann geworden war, mit dem Oberbaumeister und mit Plänen herumlaufen.

Er meißelte Steine, die noch keine der Maurer je gesehen hatten, so filigran waren sie geschnitten. Er fing an Spitzbogen zu machen, weil der Meister ihm erzählte, dass dies die ganz Modernen jetzt tun. Die Kirche bekam einen sehr viel filigraneren Ausdruck. Abt und Äbtissin waren erstaunt und lobten den Oberbaumeister.

Eines Tages beim Zahlen nahm der Oberbaumeister den Peter mit und stellte ihn vor.

Peter hatte Angst, weil er wusste, dass beide keine guten Menschen waren.

Der Oberbaumeister sagte: „Ehrwürdiger Abt, ehrwürdige Äbtissin, ich möchte Euch heute Peter vorstellen, der seinen Namen nun wirklich nicht geklaut hat. (Peter kommt nämlich von Petrus, der Fels.) Er spürt die Steine, so dass mit seinem Können unser Gotteshaus viel schöner wird. Auch die Maurer haben mittlerweile erkannt, dass Peter talentiert war.“

So hat Peter im Laufe der Jahre - damals ging ein Kirchenbau jahrelang - eigentlich die Leitung mit dem Oberbaumeister übernommen.

Es vergingen Jahre, bis die Kirche so gut wie fertig war. Das Gewölbe war gotisch. Alles war jeweils zur Hälfte bezahlt, außer der Schlüsselstein, der noch fehlte.

Kapitel 4: Der Schlüsselstein

Der Oberbaumeister und Peter gingen zu dem Abt und zu der Äbtissin und sagten: „Eure Kirche ist bald fertig. Es fehlt nur noch der Schlüsselstein. Unsere Frage ist jetzt, wer bezahlt diesen Stein, weil dieser sehr wichtig ist. Er ist verantwortlich, dass die gesamte Kirche aufrecht stehen bleibt. Wir möchten Euch bitten zu entscheiden, wer diesen Stein bezahlt, weil dieser ist nicht teilbar.

Mit aller Ehrerbietung möchten wir Euch bitten, dies schnell zu entscheiden, weil das Gewölbe bald so weit fertig ist, dass der Schlüsselstein schnell gesetzt werden muss, weil das Gewölbe sonst wieder in sich zusammen fällt.

Die Äbtissin sah ihre Chance gekommen und mit verschmitztem Gesicht sagte sie: „Selbstverständlich bezahle ich diesen Stein in Demut und ich möchte Euch Abt bitten meine Spende anzunehmen.“

Der Abt, der bekannterweise genau so schlecht war, hatte sofort durchschaut, was die Äbtissin damit wollte.

Sie werde in Zukunft sagen, dass ihr der Schlüsselstein gehört. Wenn sie den Schlüsselstein wegnehme, steht die Kirche nicht mehr. Also ist sie die wahre Besitzerin der Kirche. Dass die Kirche über der heiligen Quelle gebaut worden war, war offensichtlich beiden völlig unwichtig

Der Abt lehnte natürlich ab und beharrte darauf, diesen Stein höchstpersönlich selbst zu bezahlen. So zankten sie sich vor dem Oberbaumeister und Peter.

Peter wollte dies nicht mitbekommen und ging. Er kletterte oben ins Gewölbe und sah, dass es noch zwei Tage Arbeit gab, dann musste der Schlüsselstein gesetzt werden, sonst hielt das Gewölbe nicht.

Äbtissin und Abt entschieden sich, dass sie wiederum dem Papst schreiben, der soll entscheiden.

Sie beteuerten beide, dass beide einen Brief schreiben und gingen in ihre jeweiligen Klöster zurück. Doch beide dachten: Dieses mal bin ich nicht so dumm, ich schreibe gar keinen Brief und ich werde selber hier vor Ort eine gute Lösung für mich finden. Es soll sich kein Papst mehr einmischen.

Kein Brief ging an den Papst und es wurde nichts entschieden.

Nach zwei Tagen war es dann so weit. Der Schlüsselstein konnte eben nicht gesetzt werden, weil beide darauf beharrten ihn zu bezahlen.

Peter sagte seinen Maurern: „Baut das Gerüst schon ab, die Kirche wird an Ostern eingeweiht. Ich werde jetzt mal provisorisch das Gewölbe halten. Die werden sich schon einig werden.“ Es war früh in der Karwoche und alle freuten sich auf die Einweihung der Kirche.

Peter klemmte sich oben ein, die Gerüste wurden abgebaut, die Kirche wurde reichlich geschmückt. So kam Ostern. Völlig überraschend tauchte der Papst auf und weihte diese Kirche ein.

Er segnete sie, lobte diesen Bau und bat alle Anwesenden - es gab viele Bischöfe - von dieser heiligen Quelle zu berichten, dass viele Pilger kommen sollten.

Peter, der ganz oben an dem Platz des Schlüsselsteins die ganze Kirche hielt, sah das alles und freute sich, dass seine Kirche so viel Aufmerksamkeit erhielt. Es war zwar anstrengend da oben, aber das war nicht so schlimm. Nur der Weihrauch, der nach dem Gottesdienst ins Gewölbe zog brannte ihm in den Augen. Aber Peter wusste ja, was harte Arbeit war.

Da es immer noch zu keiner Einigung gekommen war, fingen die Handwerker an, dem Peter das Essen nach oben zu bringen und es wurde richtig anstrengend. Die beiden Klöster hatten mittlerweile in der wunderbaren Kirche ihre Gottesdienste jeweils aufgenommen und sie hatten peinlichst genau jeweils zur Hälfte einen Plan aufgestellt.

Durch die Bitte des Papstes war die Quelle sehr bekannt geworden und jeden Tag kamen mehr und mehr Pilger in die Kirche. Peter war so froh darüber, dass er sich richtig freute und die Schmerzen, dass er immer noch das Gewölbe als Schlüsselstein hielt, spürte er fast nicht mehr.

Die Maurer zogen weg und machten die Leute aus dem Dorf darauf aufmerksam, dass sie dem Peter Essen bringen sollten, was diese taten.

So verging Tag um Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und jeder wartete auf eine Antwort des Papstes, die er auch bei der Einweihung der Kirche nicht gegeben hatte, aber niemand außer dem Abt und der Äbtissin wusste, dass der Papst nie zur Entscheidung angefragt wurde.

So wurde Peters Leben ein Leben als Schlüsselstein.

Man vergaß ihn.

Abt und Äbtissin dachten auch nicht mehr daran, weil sie durch die vielen Pilger viel Geld verdienten, dass beide damit beschäftigt waren, ihre Klöster größer und schöner aufzubauen, Ländereien zu kaufen, um endlich die langersehnte Karriere zu beginnen.

An Peter dachte niemand mehr.

Doch eines Tages kam dieser gottvermaledeite Bettelmönch.

Kapitel 5: Der Bettelmönch

Bettelmönche gab es zu jener Zeit in Europa überall.

Sie lebten jenseits dieser großen Klöster, Reichtümer und Kirchen. Sie predigten Armut und echten Glauben.

Sie waren in keinster Weise beliebt. In Italien wurden sie despektierlich Fraticelli genannt. In großen Klöstern und großen Bistümern hatte man sie oft davon gejagt.

In unserem kleinen Dorf eines morgens früh kam ein Bettelmönch und rastete. Er hatte von der großen Kirche mit der heiligen Quelle gehört. Ihm war auch der zusetzende Ehrgeiz der Äbtissin und des Abtes zugetragen worden.

Die ganze Gegend hatte mittlerweile unter den Steuern der beiden Klöster und deren Streitereien sehr zu leiden. Die Bauern wurden ausgehungert, nur damit die beiden Klöster reich wurden: Die gute Zeit war vorbei, da Abt und Äbtissin immer mehr Reichtum wollten.

Der Bettelmönch hatte sich deshalb vorgenommen vor dem Kloster zu predigen.

Kurz vor dem Gottesdienst ging er vor die Kirche und predigte den wahren Glauben und die wahre Armut.

Viele Pilger hörten ihn an und gingen dann in den Gottesdienst.

Die Kirche war viel prunkvoller geworden, mit Gold ausgeschmückt. Beide Klöster hatten sich mittlerweile einen Klosterschatz angeschafft, der jeweils zur ihren eigenen Gottesdiensten in die Kirche getragen wurde und nach dem Gottesdienst wieder hinausgetragen wurde. So konnte man die Schätze öfters in der Kirche bewundern.

Peter bemerkte oben, dass eine andere Stimmung in der Kirche war. Er hatte diese laute Stimme draußen gehört, die von Armut und Demut gepredigt hatte.

Er sah seine Kirche immer schöner werden und nach dieser Predigt hat er bemerkt, dass die Leute anders reagierten. Sie waren stiller und andachtsvoller. Vor lauter Schmerz spürte Peter mittlerweile nichts mehr und das Essen, das man ihm mittlerweile nur noch hinwarf, kam aus den Abfällen der Küche der beiden Klöster.

Er war wieder zu einem einfachen leibeigenen Jungen geworden und er dachte, dass seine Zeit als Baumeister sowieso nur die Ausnahme war.

Der Bettelmönch, nachdem alle Pilger in den beiden Klöstern untergekommen waren, ging in die Kirche, in der immer noch viele Kerzen brannten. Draußen war es sehr kalt. Es war kurz vor Weihnachten. Der Bettelmönch kniete, umringt von dieser Kirche und diesem Reichtum, demutsvoll vor dem Altar nieder und betete still.

Er hatte jedoch das Gefühl, dass ihn irgend jemand beobachtete und schaute - immer noch zum Gebet gebückt - durch die ganze Kirche und in den Chor. Er entdeckte niemanden.

Das Gefühl, dass er beobachtet wurde, ging nicht weg. Er stand auf und schaute sich noch einmal um. Er sprach: „Ist jemand hier?“ Doch niemand antwortete. Peter hatte sehr wohl die Frage gehört, jedoch war ihm gesagt worden, dass er nie etwas sagen sollte und immer nur das Gewölbe halten.

Der Bettelmönch sagte noch einmal etwas kräftiger: „Ist jemand hier?“ Peter war still, obwohl er genau spürte, dass er gerne etwas gesagt hätte. Seit langen Jahren hätte er zum ersten mal wieder mit jemandem geredet. Er hielt sich jedoch an das, was man ihm gesagt hatte.

Der Bettelmönch schaute in seiner Hilflosigkeit nach oben und entdeckte plötzlich Peter. Peter dachte, er würde inbrunstvoll beten, als er ihn anschaute. Der Bettelmönch sah diesen Menschen, der als Schlüsselstein oben die ganze Kirche hielt.

Er war innerlich zerstört vor der Grausamkeit dieser Menschen hier. Er weinte.

Er wusste nicht, was er tun sollte. Er legte sich auf den Boden, breitete Arme und Beine aus in einer demutsvollen Gebetshaltung und betete die ganze Nacht bis zum frühen Morgen. Er betete um eine Lösung, was er tun sollte.

Und morgens früh kam ihm die Lösung. Er werde das tun, was er immer getan hat: Predigen. So sprach er, es war am Tag vor dem Heiligen Abend, morgens früh folgende Wörter: 

„Vermaledeit seien solche, die denken, dass sie wirklich zu etwas gebraucht werden, denn sie sind nicht gottesfürchtig.

Vermaledeit seien solche, die ihre Talente nicht nützen, denn sie verschönern die Welt nicht zu Gottes Herrlichkeit.


Vermaledeit seien solche, die zu still und zu demutsvoll sind, obwohl sie die Wahrheit in sich tragen.

Vermaledeit seien solche, die leuchten können, jedoch sich in Verliesen und Verstecken halten, um dieses Licht der Welt nicht zu zeigen.“

Nach diesen Worten machte er eine Pause und sagte weiterhin:
„Gesegnet seien solche, die ihrem eigenen Weg nachgehen und die nicht den Mächtigen folgen.

Gesegnet seien solche, die in sich Feuer spüren und dieses in die Welt tragen.

Gesegnet seien solche, die ihre Talente anderen mitgeben und somit neue Talente entdecken.

Gesegnet seien solche, die ihr Leben leben und allen anderen zeigen, wie freundlich das Leben sein kann. Sie tun dies zur Herrlichkeit Gottes.
Sie sind des Himmelreiches.“

Diese Predigt hallte durch die ganze Kirche.

Der Bettelmönch war schon lange wieder aus der Kirche, jedoch in Peters Ohren klang die Predigt immer noch und immer wieder.

Kapitel 6: Die Katastrophe

Es war am Heiligen Abend und dieses Jahr wussten die Pilger und Dorfbewohner, dass es ein Weihnachten war, wo Äbtissin und Abt gemeinsam den Gottesdienst am Heiligen Abend gestalteten. Heute würde man sagen, dies war Chefsache, weil an allen anderen großen Feiertagen einmal der Abt und einmal die Äbtissin dran war, nur an Weihnachten hatte man sich geeinigt, dass dieses Fest zusammen gestaltet wurde.

Am frühen Abend trafen sich deshalb Abt und Äbtissin unter dem Gewölbe der Kirche an der heiligen Quelle, um den Gottesdienst gemeinsam vorzubereiten. Es war ein grausamer Moment für Abt und Äbtissin da sie wussten, dass es wieder sehr viel Streit geben würde. Jeder wollte natürlich die Oberhand behalten.

Das Bewusstsein in einem Gotteshaus zu sein und an einer heiligen Quelle war ihnen jetzt definitiv abhanden gekommen. So hörte man sie wieder in der Kirche schreien und streiten. Äbte und Mönche und auch manche treuen Pilger und Dorfbewohner warteten außerhalb der Kirche, um dann den Gottesdienst zu feiern.

Und dann passierte es.

Plötzlich gab es dumpfe Geräusche, die immer lauter wurden. Der Boden erzitterte und alle schauten sich angstvoll an. Was war los? Plötzlich krachte in einem lauten Getöse das ganze Dachgestühl in die Kirche hinein: Das Gewölbe war eingebrochen. Das Dach stürzte mit dem Gewölbe in die Kirche hinein. Der Turm der Kirche kam ins Wanken und begrub unter sich die Kirche, die heilige Quelle, so dass nur noch die Außenmauern wie Ruinen stehen blieben.

Die Dorfbewohner schauten sich an und die Klostermitglieder jeweils auch.

Keinem kam in den Sinn, dass Abt und Äbtissin in der Kirche war.

Alle sahen darin ein großes Zeichen des Unglücks. Sie waren eine Weile wie gelähmt. Vor lauter Angst flüchteten sie dann alle. Die Dorfbewohner verließen aus Angst vor dem Teufel das Dorf und brachten sich in den Nachbardörfern unter. Die Mönche und die Nonnen flohen - wohin wusste man nicht.

Die Katastrophe war im ganzen Land bekannt und später in der ganzen Christenheit. Bis nach Rom kam die Neuigkeit.

Epilog: Was die Menschen sich noch lange Jahre erzählten

Die beiden Klöster wurden anschließend aus Angst nie mehr aufgebaut. Das Ganze ist nur zu uns gekommen durch Legenden, die sich seit Generationen die umliegenden Dörfer erzählen.

Erst seit kurzem wurden die Ruinen des Dorfes und des Klosters untersucht und tatsächlich war die Kirche eingestürzt. Man fand die Spuren dieses Einsturzes obwohl auch die Aussenmauern schon lange entweder abgebaut oder in sich zusammen gefallen waren.

Die Überreste von Abt und Äbtissin fand man nicht. Jedoch erzählten sich die Alten damals in diesem Zusammenhang immer wieder von einem teuflischen Bettelpaar das von Dorf zu Dorf zog und dort Unheil über die Menschen brachte.

Der Bettelmönch, den alle im Verdacht hatten, dass er das Durcheinander gebracht hatte und die Katastrophe auslöste, ward ebenfalls nicht mehr gesehen.

Allerdings erzählte man immer wieder von einem Bettelmönch der wie wundersam an den Orten auftauchte, wo Kathedralen und Kirchen zur Herrlichkeit Gottes in ganz Europa gebaut wurden. Man sah ihn dort mit einem bescheidenen Baumeister kurz sprechen und er ging dann wiederum seinen Predigten nach. Die Alten sagen auch, er hätte immer wieder, bevor die Kirche eingeweiht wurde, seine erste Predigt vor den Toren der Kirche gehalten.

An den größten und schönsten Kirchen, die damals gebaut wurden, war er immer wieder zur Eröffnung da. Niemand konnte sich dies erklären. Manche haben einfach gesagt, es sei nie der gleiche Bettelmönch, jedoch andere beschworen, dass es immer der gleiche war.

Was aus Peter, dem Schlüsselstein geworden ist, wusste niemand. Man stellte nur fest, dass nach jenem Weihnachten als die Kirche zusammen gestürzt war, viele wunderbare und schöne Kathedralen, Kirchen und Dome in Europa gebaut wurden.

Aber eines wäre komisch gewesen bei all diesen Kirchen: Man erzählt, dass der Baumeister zuallererst den Schlüsselstein gemeißelt hätte. Noch bevor ein anderer Stein existierte.

Der Schlüsselstein als der wichtigste Stein. Es verstand niemand.

Was aus Peter, dem Schlüsselstein geworden ist, wusste jedoch niemand.

 

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