2008: Der Junge mit der Glocke

– Von der intimen Beziehung zwischen Zwang und Fähigkeit –

 

In einer längst verschollenen Zeit herrschte ein Abt in seinem Kloster mit großer Macht und Grausamkeit. Das Kloster war ein sehr bekanntes, für seine Bibliothek, für die große Frömmigkeit seiner Mönche und vor allem für die größte und bekannteste Glocke, die die Christenheit damals kannte.

Dieser Glocke war ein ganzes Gebäude gewidmet und sie wurde nur an großen Feiertagen - Weihnachten, Ostern - und natürlich an jedem Sonntag benutzt. Der Abt war ein stolzer Mann, so dass er es eigentlich gerecht fand, dass er die größte Glocke der Christenheit in Gewahrsam hatte.

Direkt unten am Klosterberg war ein kleines Dorf, das - wie viele andere Dörfer in der Gegend auch - zu dem Kloster gehörte und in dem die Bauern, die dort Tag für Tag schufteten, die Leibeigenen des Klosters waren.

Auch hier war der Abt von einer großen Grausamkeit, so dass die ganzen Bauern Tag und Nacht arbeiteten und trotzdem oft Hunger litten. Öfters ging ein Grollen durch das kleine Dorf und manche - auch die Einflussreichsten - fanden, dass der Abt es übertrieb. Besonders böse war er im Religionsunterricht. Jeden Sonntagnachmittag, wenn die Kinder im Kloster Religionsunterricht bei einem Mönch hatten, erschien er öfters ganz unverhofft und fragte die Schüler aus. Man sah in seinen Augen fast Freude, wenn einer von den Kleinen etwas nicht wusste, so dass er ihn dann - meistens in peinigender Art - bestrafen konnte.

Er hatte es auf einen kleinen Jungen abgesehen, der für sein Alter gesund und stark war und vor allem einen inneren Stolz hatte, was den Abt besonders störte. Er wies die Mönche zu besonderer Strenge bei diesem Jungen an. Er sagte: „Brecht mir dieses Rückgrat, denn dieser Junge ist des Teufels. Schaut ihm in die Augen, mit denen er so forsch schaut. Es sind die Augen des Teufels, ihr Mönche, und Eure Aufgabe ist es, den Teufel zu bekämpfen.“

Die Mönche, die damals nicht viel Bildung genossen, schauten in die Augen des kleinen Jungen und sahen die Freundlichkeit eines kleinen Kindes, ein gesundes Selbstbewusstsein und sicherlich auch etwas Bauernschläue. Dann erschraken und tuschelten sie unter sich: „Der Abt hat Recht, er ist des Teufels.“ So hatte es dieser Junge besonders schwer. Sie schlugen ihn oft, gaben ihm zusätzliche Hausarbeiten und seine Eltern mussten öfters für das Kloster Sonderaufgaben lösen. Der Junge verstand nicht, warum er so behandelt wurde, doch er sagte sich, - wie sollte er es besser wissen - dass die Mönche alles richtig machen. Er spürte doch, - ohne damit etwas anfangen zu können - dass irgend etwas nicht stimmte.

In einem Jahr, als der Winter besonders kalt und streng war und die Ernte zuvor schlecht gewesen war, so dass viele bereits am Hungern waren, wartete man im Dorf - wie jeden Sonntag - auf die Glocke, die größte Glocke der Christenheit.

Es war eine Glocke, die am Dachgebälk des Gebäudes angebracht war und nicht, wie die kleineren Glocken, geschwungen wurde, denn dazu war sie zu schwer. Sie wurde mit einem Hammer beschlagen, wodurch ein besonders schöner Ton entstand. Da dies fast die einzige Freude geblieben war, warteten alle im Dorf auf diesen Ton.

Doch an jenem 3. Advent in diesem kalten Winter kam der Ton nicht. Im Dorf war großes Erstaunen und plötzlich standen alle auf der Straße und schauten hoch zum Kloster. Sie empfanden dies als bedrohlich, da nach einem schlechten Sommer eine schlechte Ernte gewesen war und zusätzlich ein sehr kalter Winter. Alle empfanden dies als Zeichen eines großen Unglücks. Einer von ihnen sagte: „Komm, wir gehen hoch.“ und so ging das gesamte Dorf mit den Kindern zum Kloster.

An dem Gebäude der Glocke angekommen, sahen sie die Katastrophe. Ein Teil des Dachgebälkes war eingebrochen und die Glocke hing nur noch zum Teil am Dachgebälk und mit einer Seite auf dem Boden. So konnte sie nicht mehr klingen. Der Abt stand da und schaute grimmig in die Menge. Er sagte: „Seht Ihr, Ihr Sündigen, was Ihr angestellt habt. Gott straft uns alle, weil Ihr gesündigt habt.“ Die Bauern waren unsicher, die Männer zogen ihre Hüte ab und schauten auf den Boden. Doch plötzlich funkelte dem Abt jene Freude in den Augen, die alle Schüler kannten. Viele versteckten sich in den Röcken ihrer Mütter, aus lauter Angst vor diesem Blick. Der Abt atmete einmal durch, schaute in die Menge und verkündete: „Es muss ein Zeichen gesetzt werden gegen die Sünde. Buße und Strafe ist hier nur gerecht.“ Er sprach kurz leise mit seinem Prior, der dann durch die Menge ging, bis zu dem kleinen Jungen, zerrte ihn dann unfreundlich nach vorne zum Abt und dieser verkündete: „Zur Strafe und Buße verurteile ich diesen Jungen, der ein besonders schlechter Christ ist, die Glocke gerade zu heben, jedes mal, wenn wir sie brauchen.“ Durch die Menge ging ein Raunen, denn die Glocke war mindestens vier mal höher als der kleine Junge selbst und der Abt verlangte etwas Unmögliches.

Der Dorfvorsteher trat hervor und sagte: „Herr Abt, das ist doch unmöglich.“ Der Abt lächelte kalt und sagte: „Gott macht alles möglich. Dann soll der Junge halt üben, bis er es schafft.“ Daraufhin drehte er sich um und ging in die Klosterkirche, im Gefolge alle seine Mönche. Das Dorf stand da und vor dem ganzen Dorf der kleine Junge, der hilflos weinend in die Menge schaute, zu seinen Eltern und zu allen Anderen, ob ihm jemand helfen konnte. Er weinte, weil er wusste, dass er etwas für das ganze Dorf tun musste, sonst würden alle unter seiner Unfähigkeit leiden. Er wusste auch, dass er es nicht konnte. Er suchte Hilfe, doch einer nach dem Anderen schauten die Erwachsenen auf den Boden. Die Kinder versteckten sich hinter den Erwachsenen und es wurde still um ihn. Jemand hörte man sagen: „Es tut uns leid, aber was sollen wir tun? Wir müssen an uns und unsere Familien denken.“ So ging einer nach dem anderen den Weg vom Kloster wieder zurück ins Dorf, bis der kleine Junge im Schnee vor der großen Glocke alleine stand. Er sah die Glocke an und in seiner Hilflosigkeit versuchte er die Glocke zu heben, was ihm natürlich nicht gelang. Er fühlte die kalte Glocke an seinen Händen und war verzweifelt.

Als alle Dorfangehörigen weg waren kam der Abt ihm Gefolge seiner Mönche aus der Kirche. Er schaute den Jungen von Weitem genugtuend an, flüsterte dem Prior etwas ins Ohr und ging weg. Dieser ging zu dem Jungen und sagte: „Ab jetzt lebst Du hier in diesem Keller.“ Neben dem Glockengebäude gab es einen Keller, wo die Mönche einen Lagerraum hatten. Es gab keine Fenster und auf dem Boden lag nur Stroh.

„Du wirst immer mit uns beten und Du wirst jeden Tag üben, bis Du die Glocke heben kannst.“ Der Junge schaute ihn traurig an und der Prior sagte: „Fang jetzt an zu üben“ und ging. So begann ein neues Leben für den kleinen Jungen. Früh am Morgen stand er von seinem Strohbett auf, ging zur Kirche mit den Mönchen beten und bis die Mönche am Abend ihr letztes Gebet hatten, war sein Leben geprägt von der Übung die Glocke zu heben.

Es vergingen die ersten Tage. Der Junge musste sich jeden Morgen früh nach dem Morgengebet zur Glocke stellen und versuchen diese völlig unmögliche Aufgabe zu lösen.

Er machte jedoch sein Bestes. Er griff immer wieder das kalte Metall der Glocke und stemmte seinen ganzen, kleinen Körper gegen die Glocke in die Höhe. Dies machte er dann den ganzen Tag, bis zur Erschöpfung.

Er war sehr traurig, sprach nicht mehr und betete oft zu Gott, dass er diese große Aufgabe doch endlich ein wenig schaffen könnte. Er dachte wieder, dass dies, was ihm geschieht, normal sei.

In der Nacht, wenn er nicht schlafen konnte, machte er Körperübungen, damit er schneller stark wurde. Nachts kamen ihm manchmal Zweifel, ob das, was ihm alles geschah, auch gerecht und von Gott gewollt sei. Er weinte.

Und so vergingen Tag um Tag, Woche um Woche und er wurde still.

An den Sonntagen, wenn das Dorf zum Hochamt zum Kloster kam und er wieder an der Glocke stand, schlichen sich immer wieder, immer mehr Dorfbewohner an ihm vorbei. Am Anfang grüßten sie ihn noch diskret, aber um so mehr Tage vergingen, um so mehr ignorierten sie ihn. Er schaute traurig auf seine Spielkameraden, die ihn ebenfalls nicht mehr grüßten.

Seine Eltern kamen manchmal vorbei und brachten ihm etwas zu essen. Besonders hart waren die warmen Sommertage, an denen er sehr schwitzte bei dieser Arbeit und dann natürlich diese harten Wintertage. Es gab Tage, wo seine Hände an der Glocke fest gefroren sind und er einfach weiter machte. Manchmal hoffte er, wenn seine Hände festfroren, dass er die Glocke dann besser heben konnte...

Es war ein Jahr danach an Weihnachten, als der Abt mit den ganzen Bewohnern nach der Weihnachtsmesse zur Glocke kam. Er schaute sehr streng und er hatte wieder diese böse Freude in den Augen. Er sagte an jenem Weihnachten: „In meiner großen Güte verkündige ich, dass wenn dieser Junge endlich diese Glocke heben kann, ich die Zehntsteuer auf dem Weizen nicht mehr erheben werde.“

Wiederum ging ein Raunen durch die Menge und der Abt fuhr weiter: „Ich hoffe, Ihr seht, dass ich es gut mit Euch meine und für Euch alle ein guter Abt bin.“ Doch er sagte dies wieder mit seinem Blick, von dem alle wussten, dass er sich freute, dass es nie geschehen wird.

Als der Abt und die Mönche weg waren, stand die Dorfgemeinde noch da und schaute den Jungen an. Eine Stimme sagte: „Junge, streng Dich jetzt an,Ddu weißt ja, dass wir alle hungern.“ Seine Eltern standen mit Tränen in den Augen da und sagten nichts. Die gesamte Dorfgemeinschaft ging zurück ins Dorf.

Von dem Tag an übte der Junge noch härter, schlief kaum, machte Körperübungen und hatte sich vorgenommen, es zu schaffen.

In den Betstunden in der Kirche betete er immerfort nur eins: „Herr Gott, lass mich so stark werden, dass ich es schaffe.“ Er wiederholte dies innerlich die ganze Zeit.

Die Tage und Jahre gingen hin und der Junge merkte immer wieder am Sonntag, wenn die Dorfgemeinschaft oben war, dass viele einen Groll auf ihn hatten, weil er es immer noch nicht geschafft hatte. Manchmal kamen Kinder zu ihm, die er noch gar nicht kannte, da er jetzt schon jahrelang übte. Diese Kinder blickten mit Häme auf ihn und sagten: „Warum hilfst Du uns nicht? Wir sind böse mit Dir.“ So wusste er, wie die Erwachsenen über ihn redeten. Er übte dann noch härter.

Seine Hände verformten sich so langsam von dem vielen üben und sie schmerzten sehr. Doch es passierte durch diese Übungen auch noch etwas anderes.

Als ein Bauer eines Tages Wein ins Kloster lieferte, brach durch eine Ungeschicklichkeit die Achse.

Der Junge war gerade am Versuch, wiederum die Glocke zu heben und er sah, dass der Bauer und seine Helfer die Schwierigkeit hatten, den Karren zu heben, um die Achse zu reparieren. Er ging zu ihm hin und er sagte: „Vielleicht kann ich Euch helfen.“ Er packte den Karren genau so, wie er die Glocke immer anfasste - seine Hände waren ja mittlerweile gut verformt - und hob mit Leichtigkeit diesen Karren auf. Die Bauern erschraken ob der Kraft des Jungens. Sie waren sehr verunsichert über die Kraft, reparierten die Achse schnell, lieferten ihren Wein aus und verschwanden wieder. Der Junge jedoch war selber über seine Kraft erstaunt und hatte wieder neue Hoffnung, dass er es doch einmal schaffte.

Die Welt war mit den Jahren jedoch nicht besser geworden. Der Abt hatte persönliche Freude daran, jedes Weihnachten Steuererleichterungen zu versprechen, wenn der Junge die Glocke gehoben bekam. Vor drei Jahren hatte er aber etwas Neues gefunden. Er erhöhte die Steuern erst einmal, so lange der Junge die Glocke nicht hob.

So gab es in den umliegenden Dörfern noch größere Armut und viele, die den Jungen nur vom Sehen her kannten, hegten wiederum Groll.

Der Junge hatte sich mittlerweile an sein Schicksal gewöhnt und er hatte seinen Rhythmus gefunden. Er betete in der Kirche um Kraft, übte den ganzen Tag die Glocke zu heben und nachts spürte er, ohne es benennen zu können und ohne Wörter dafür zu haben, die Ungerechtigkeit, die ihm angetan wurde. Er hatte schon lange aufgegeben, gegen diese anzukämpfen.

Er hatte jedoch immer noch diesen Blick, diesen Blick, dem der Abt nie verzeihen konnte, von jenem ungebrochenen Selbstbewusstsein. Das bestätigte ihm der Abt jede Woche, weil der Abt jeden Freitag kam, ihm in die Augen schaute und jedes mal ging eine Furcht über das Gesicht des Abtes und der Junge spürte: so lange er diesen Blick hatte, dieses Ungebrochene in ihm, so lange wird der Abt ihn nicht freilassen, sondern neue Bürden auferlegen. Ohne es zu wissen, lebte der Junge von diesem Blick.

Nach Jahren - der Junge, war bereits ein junger Mann geworden - merkte er, als er wieder einmal an der Glocke war, mit dem Versuch sie zu heben, dass große Geschäftigkeit im Kloster herrschte. Die Mönche liefen hektisch umher, putzen jede Ecke des Hofes, viele bunte Fahnen hingen überall und die Kirche war besonders mit Blumen geschmückt.

Am Nachmittag sah er fremde Mönche den Klosterweg herauf kommen, die mit Gesang und großem Pomp von dem Abt und der ganzen Klostergemeinschaft begrüßt wurden. Er schaute sich das alles an, aber er wusste, dass es ihn nicht betraf, er war ja nur der Junge von der Glocke.

Nach diesem Besuch jedoch änderte etwas.

Die Besuche des Abtes am Freitag blieben aus. Irgendwie war auch die Atmosphäre in der Kirche anders. Manche Mönche sahen viel gelassener aus, andere liefen eher mit eingezogenem Kopf umher. Je höher die Mönche in der Hierarchie waren - der Prior, der Cellerar - desto eher sahen sie ängstlich aus.

Auch der Abt, den er nur in der Kirche von Weitem sah, sah anders aus. Er beobachtete dies alles, konnte aber die Bedeutung nicht einschätzen.

Zwei Monate nach diesem Besuch gab es jedoch größeren Trubel.

Der Abt, der Prior und alle anderen wichtigen Mönche waren plötzlich weg und durch Mönche mit einer anderen Kutte ersetzt. Sie gehörten offensichtlich zum Bettelorden, die in jenen Zeiten aufkamen und die Klöster reformierten.

Was der Junge nicht wusste, war, dass der erste hohe Besuch gekommen war, um dieses Kloster zu inspizieren. Der Abt und sein direktes Gefolge waren einfach abgesetzt worden.

Das Kloster war bekannt für seine hohen Steuern und für die arrogante Haltung des Abtes. Die Reform ging damals durch die ganzen Klöster. Der Abt war abgelöst worden. Der Junge jedoch versuchte weiterhin jeden Tag die Glocke zu heben und lebte einfach weiter wie vorher.

Der neue Abt war noch keine drei Tage da - der Junge wollte gerade nach dem Morgengebet beginnen, die Glocke zu heben - kam er zu dem Jungen, der ja bereits ein junger Mann war, und sagte: „Junge, man hat mir Deine Geschichte erzählt. Es tut mir sehr leid, was man Dir angetan hat und ich befreie Dich von dieser sinnlosen Aufgabe und Du kannst sofort in dein Dorf zurück kehren. Es tut mir sehr leid, was Dir seit Jahren passiert.“

Der Junge stand wie angewurzelt an seiner Glocke und es war gut, dass er sich an dieser festhalten konnte. Er spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen wegglitt und wie Angst, Panik und Freude sich miteinander vermischten, so dass er weder etwas sagen konnte noch irgend einen klaren Gedanken fasste. Die Gefühle aus der Nacht, das spürte er genau, freuten sich sehr und flüsterten ihm zu: „Jetzt bist Du frei, jetzt kannst Du endlich ein normales Leben führen.“ Jedoch die ganzen Jahre der Übung, des Kräfteaufbaus und der vielen Gebete, dass er stark wird, waren in Panik. „Was soll ich denn jetzt nur tun? War alles sinnlos? Ich möchte einfach weiter machen.“ So war er hin- und hergerissen und seine Panik war ihm offensichtlich in den Augen zu sehen.

Der neue Abt sagte: „Junge, ich weiß, was man Dir angetan hat. Gehe doch jetzt in Dein Dorf und lebe ein normales Leben.“ Der Abt legte ihm gütig die Hand auf die Schulter und der Junge spürte, dass der Abt es gut meinte, im Gegensatz zu seinem Vorgänger.

Als der Abt am anderen Tag an dem Klostergebäude vorbei kam, stand der Junge wieder da und übte. Der Abt schaute erstaunt und ging zu dem Jungen. Er sagte: „Was machst Du denn noch hier? Lass es, wir brauchen diese Glocke gar nicht. Das Kloster wird auch nicht mehr Deine Familie und die Menschen in den Dörfern ausbeuten.“ Und der Abt schob ihn von der Glocke weg und ging.

Der Junge stand im Hof und wusste gar nicht, wie ihm geschieht. Er war doch zuständig dafür, dass die Steuererleichterungen kamen. Er war auch zuständig dafür, dass es den Leuten in den Dörfern besser ging und jetzt sagte der Abt, dass es den Leuten besser geht und er hatte es doch noch gar nicht geschafft, die Glocke zu heben. Er ging im Hof umher und er wusste nicht, was er machen sollte. Die Nächte wurden schlimmer und er war hin- und hergerissen und hatte große Angst. Jedoch blieb er, weil er sonst nicht wusste, was er machen sollte und machte in seiner Hilflosigkeit einfach weiter.

Nach einer Woche kam der neue Abt und sagte zu dem Jungen: „Junge, ich werde Dich jetzt hier aus dem Kloster werfen, damit Du ein normales Leben führst. Gehe bitte jetzt, gehe aus diesem Kloster und komme nie mehr wieder, komme nicht mehr zu dem Ort, wo man Dich so ausgebeutet hat.“ Die Teile aus der Nacht freuten sich, jedoch die Panik machte sich ebenfalls bemerkbar. So begleiteten die Mönche den Jungen vor die Tore des Klosters und er musste gehen.

Er ging in sein Dorf mit sehr gemischten Gefühlen. Er erkannte manche noch von früher. In seinem Elternhaus lebten andere Menschen, die er nicht kannte - man hatte ihm nie gesagt, dass seine Eltern gestorben waren. Er war fremd geworden in diesem Dorf. Die Leute schauten auch alle weg und die, die ihn kannten liefen sogar weg. Was der Junge nicht wusste ist, dass sie alle ein schlechtes Gewissen hatte. Sie waren aber alle zu feige es zu sagen.

Fürs Erste schlief er in der Scheune seiner Eltern und eine Stimme in ihm sagte ihm: „Gehe mein Junge, gehe weit weg.“ Am anderen Morgen war der Junge verschwunden und man sah ihn nie wieder.

Am Sonntag hielt der neue Abt mit der ganzen Dorfgemeinschaft ein Hochamt und in den Fürbitten beteten sie alle inbrünstig für diesen Jungen.

Die Jahre vergingen und man hörte von dem Jungen mit der Glocke nichts mehr. Der neue Abt aus dem Bettelorden dachte jedoch oft an diesen Jungen: dieser komische Junge, der gar nicht froh war, als er von seiner sinnlosen Tätigkeit befreit wurde.

Der Abt wurde mehrmals darauf angesprochen, was denn nun mit der Glocke geschehen würde und der Abt hat immer wieder das Gleiche geantwortet: „Das weiß ich nicht. Am Besten wir machen erst einmal gar nichts und lassen es so sein.“

Die Mönche wunderten sich allerdings, dass der Abt penibel genau darauf achtete, dass das Gebäude mit der Glocke unterhalten wurde, so dass kein Schaden, weder an der Glocke noch an dem Gebälk entstand. Deshalb gab es auch immer wieder Mönche, die den Abt fragten: „Herr Abt, jetzt sind sie schon jahrelang hier Abt und Sie lassen immer wieder dieses Gebäude reparieren und erhalten es. Sie haben doch sicherlich einen Plan, was wir mit diesem Gebäude oder mit der Glocke machen sollen.“

Der Abt war dann immer wieder hilflos und dachte an den Jungen. Er sagte dann meistens: „Nein, liebe Mitbrüder, ich weiß nicht, was wir mit diesem Gebäude machen sollen. Lassen wir es doch lieber sein.“ Die Mönche schauten sich erstaunt an, weil sonst war der Abt ein Mann der Entscheidungen und der Entschiedenheit. Er war ein gerechter Abt, der für seine Dörfer sorgte und keine ungerechte Steuer erhob. Er war insgesamt ein guter Seelsorger für seine Mitbrüder und die ganzen umherliegenden Dörfer, die zum Kloster gehörten.

Unter dem neuen Abt ging es den Menschen in den Dörfern gut und sie litten keinen Hunger mehr. die Jahre und Jahrzehnte vergingen. Der Abt wurde mit seinem Prior gemeinsam alt und als beide schon sehr alt waren und der Abt wieder einmal dafür gesorgt hatte, dass das Glockenhaus erhalten blieb, nahm der Prior sich seinen Mut und ging zum Abt. Er sagte: „Vater, nun bin ich doch schon seit Jahrzehnten Dein Prior und wir haben viel Gemeinsames hier verändert und Gutes für die Menschen der Region getan. Nur Dein Verhalten mit der Glocke und mit dem Glockenhaus habe ich nie verstanden. Ich werde jedoch alt und ich möchte das noch verstehen.“

Der Abt schaute in die Ferne und sagte: „Mein Prior, Du hast Recht. Dieser Junge, den wir damals befreit haben, geht mir seit dem ich hier bin nicht aus dem Kopf. Er begleitet mich in meinen Gebeten. Er kommt mir oft in den Sinn und ich frage mich oft wie es ihm geht, ob er noch lebt und was aus ihm geworden ist. Ich habe nie so richtig verstanden, warum er nicht erleichtert war, als diese ganze Schikane und Ausbeuterei zu Ende war. Ich glaube, ich erhalte dieses Glockenhaus, weil ich es nie verstanden habe.“ Der Prior schaute dem Abt in die Augen. Sie waren feucht. Er wusste: mehr wird er nicht vom Abt hören. Er ging weg mit der Sicherheit, dass der Abt ein guter, aber doch immer wieder ein erstaunlicher und verschlossener Mann war.

Es gingen noch einige Jahre vorbei, an denen das Kloster in seinem Alltäglichen lebte. Der Abt war nun schon sehr alt geworden und er selbst dachte an seine Nachfolge und für sich selbst ans Sterben.

Es war im Winter, kurz vor Weihnachten in der dunkelsten Jahreszeit, und der Abt machte sich dran, seine Nachfolge zu regeln. Neben vielem, was ein Abt regeln muss, dachte er, ich muss sicherstellen, dass nach meinem Tod dieses Glockenhaus so erhalten bleibt. Nach dem Abendgebet machte er sich daran, eine Verfügung zu schreiben, dass nach seinem Tode dies so in dem Klosterregister verfügt sein wird. Er rief seinen Prior und sagte zu ihm: „Wir müssen beide an unsere Nachfolge denken und da meine Hand mittlerweile zu zittrig geworden ist, brauche ich Dich, um zu schreiben. Ich möchte, dass wir festhalten, dass das Glockenhaus, nachdem wir beide nicht mehr sind, so erhalten bleibt.“ Der Prior wollte etwas erwidern, doch er merkte, dass es keinen Sinn hatte. Das Kloster war mit der Zeit größer geworden und man benötigte dringend diesen Platz, um weitere Gebäude zu bauen. Es war am Abend des 3. Adventssonntag und der Prior nahm Feder, Tinte und Pergament, so dass der Abt seinen Willen schreiben konnte.

Es war bereits tief in der Nacht und der Prior sagte: „Bitte, mein Abt, ich bin bereit.“ Der Abt fing an: „Ich, Abt dieses Klosters, verfüge, dass …“ Er sprach noch und plötzlich, völlig unvermittelt, gab es einen lauten Glockenklang, den der Abt und der Prior noch nie gehört haben. Er war so tief und so schön und so pur, wie sie noch nie eine Glocke gehört haben. Beide standen wie versteinert da und wussten nicht, was sie machen sollten.

Einige Minuten später klopfte es aufgeregt an die Tür des Abts und ein sehr alter Mönch kam mit großer Angst im Gesicht und völlig verwirrt in das Zimmer. Er warf sich vor den Abt, hielt sich an ihm fest und sagte: „Mein Abt, mein Abt, das ist die große Glocke, ich kenne sie noch von früher. Mein Abt, ich habe Angst.“ Jener Mönch gehörte nämlich noch zu der alten Truppe des grausamen Abtes. Er schrie fast und sagte: „Mein Abt, jetzt werde ich bestraft, weil ich damals alles mitgemacht habe. Ich werde jetzt bestraft.“ Und die Glocke tönte weiter, hinaus ins Dorf und auch dort waren die Ältesten auf der Straße und sie kannten diesen Ton. Sie sahen alle sehr beschämt zu Boden und hatten große Angst. Viele dachten, dass jetzt ihre Stunde geschlagen hätte und Gott sie strafen würde. Die meisten knieten sich hin und beteten inbrünstig, um zumindest so sicherzustellen, dass sie in den Himmel kamen. Manche hatten jedoch so Angst, dass sie gar nicht mehr beten konnten.

Der Abt schaute seinen Prior an und er befreite sich erst einmal aus dem Griff des alten Mönchs, der auf dem Boden kauerte und weinte. Er sagte zu ihm: „Bruder, komme hoch, habe keine Angst, setze Dich hin.“ Zum Prior sagte er: „Prior, bleibe hier und passe auf Deinen Mitbruder auf.“

Der Abt ging in die Kirche, kniete sich hin und betete still und leise. Auch er hatte Angst. Er betete die ganze Nacht, auch nachdem die Glocke schon lange zu klingen aufgehört hatte. Im Morgengrauen stand der Abt auf, ging aus der Kirche zur Glocke. Er war der Erste, der dies wagte, da alle wussten, sie kann gar nicht klingen. Der Abt ging hin und sah, dass die Glocke wieder aufgerichtet war, sie wieder an dem alten Platz hing und der Hammer, der vor Jahrzehnten dazu diente, sie zum Klingen zu bringen, stand direkt neben der Glocke. Unten war die Glocke aus spezial angefertigten Holzpfeilen doppelt gesichert. Der Abt schaute sich das Werk an und er wusste, dass er heute noch ein Begräbnis zu organisieren hätte.

Mit einer Sicherheit, wo er selbst nicht wusste, wo sie herkam, ging er in den Keller wo der Junge früher übernachtete. Im Keller angekommen fand er einen alten Mann, der sehr reich bekleidet war, in der Ecke liegend, wo der Junge immer geschlafen hatte. Der Mann war tot und - auch, wenn er mittlerweile ganz anders aussah in dieser reichen Kleidung - wusste der Abt, dass es der Junge ist. Dieser alte Mann hatte eine Pergamentrolle in der Hand. Der Abt nahm eine Kerze, zündete sie an, nahm das Pergament und las: „Lieber Abt, ich kenne nicht einmal Deinen Namen und ich kannte damals, als Du mich aus dem Kloster gescheucht hast, nicht einmal meinen eigenen Namen. Jedoch neben Deinem Vorgänger, diesem grausamen Menschen, warst Du einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Du sollst wissen, was mit mir passiert ist. Als Du mich weggescheucht hast war ich hilflos und verlassen. Ich hatte den Sinn meines Lebens verloren und ich wusste nicht, zu was ich tauge und was ich machen sollte. Ich war sehr zwiegespalten. Ich wusste, ich war befreit, aber ich konnte mit dieser Freiheit nichts anfangen und du hast mich einfach weggescheucht. Ich habe Dich oft und sehr lange Jahre verflucht.“

Der Abt verstand jetzt endlich, warum dieser Junge ihn nie mehr losgelassen hatte.

„Ich habe ein gutes Leben gehabt. Ich habe - zugegebenermaßen mühsam - meine Kraft und meine zerschundenen Händen gelernt einzusetzen. Zuerst habe ich als Helfer überall gedient, wo man Kraft benötigte. Dann habe ich in einer großen Stadt, weit weg von hier - es ist egal, wo es war - mein eigenes Geschäft aufgebaut und - wie Du wahrscheinlich an meiner Kleidung siehst - bin ich ein wohlhabender Mann geworden. Ich habe viel Respekt, viel Reichtum und viel Ansehen erlangt. Ich habe auch immer versucht allen Menschen um mich herum, die mich an mich selbst erinnert haben, zu helfen. Heute bin ich hierher zurück gekommen, weil ich wusste, dass ich meine Lebensaufgabe jetzt bewältige. Du hast sie heute klingen gehört. Ich konnte in meinem Leben nie etwas anderes denken, als dass es meine Aufgabe ist, diese Glocke wieder ans Klingen zu bringen. Ich habe es jetzt geschafft und bin im Frieden mit mir selber. Abt, erwarte nicht, dass ich meinen Reichtum diesem Kloster vermache. Ich habe nur einen letzten Willen: Zerstöre diese Glocke, das Gebäude und ich möchte, dass nichts mehr übrig bleibt davon.“

Der Abt saß da, schaute diesen toten Mann an und verbrannte dann das Pergament. Er ging ins Kloster und rief alle Mönche zusammen. Was er ihnen sagte, war für die Mönche erstaunlich und niemand hatte es verstanden. Der Abt hatte große Autorität und er sagte nur: „Bitte, tut das für mich.“

Von unten im Dorf sah man die Mönche zu Werk gehen. Mit großen Hämmern und allen schweren Gegenständen, die sie fanden, zerschlugen sie die Glocke und am Abend war bereits die Hälfte des Gebäudes abgebrochen und am 4. Advent war vom Gebäude und von der Glocke nichts mehr übrig.

 

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