2006: Der gute Abt – Über das Wesen der Entscheidung
Es war Herbst und der Cellerar des Klosters hatte alle Hände voll zu tun: die Ernte, die die Bauern ins Kloster brachten zu dokumentieren, in die entsprechenden Keller zu schaffen, die Qualität des Weines zu überprüfen, das Rauchfleisch zu überprüfen und in die Räucherkammer zu hängen. Er war sehr beschäftigt. Das Kloster, das in einem Seitental eines kleinen Gebirges lag, war in den letzten Jahren sehr gewachsen und es hatte an Bedeutung gewonnen.
Das Skriptorium war angebaut worden und das Kloster hatte für viele Mönche große Anziehungskraft entwickelt.
An jenem Sonntag im Herbst ging der Abt an die Vorbereitung für das feierliche Hochamt. Er dachte an sein Kloster und war zufrieden. Er hatte einen strengen Prior gefunden, einen guten Kellermeister, eine Heerschar an Laienbrüdern, die zwar etwas verunsichert aus der Welt in das Kloster geflohen waren, jedoch gute Arbeiter waren. Mittlerweile hatten sich auch eine Handvoll Intellektuelle ins Kloster eingefunden und der Abt dachte: Es ist gut so.
Das Kloster lag etwas abseits der Pilgerwege nach Santiago de Compostela und so war dies alles nicht von selbst gekommen. Er war ein wenig stolz auf sich und dankte Gott. Als er mit den letzten Beschäftigungen zum Hochamt fertig war, hörte er einen großen Aufruhr im Klosterhof. Es klopfte hektisch an seiner Tür und einer der Brüder trat ein. Der Bruder erzählte aufgeregt, dass eine Frau sich in der Nacht in den Klosterhof eingeschlichen hatte. Man habe sie jetzt in der Ecke zwischen Stall und Apotheke in einer Nische gefunden.
Der Abt faltete die Stirn: „Eine Frau im Klausurbereich?“
Er ging auf den Hof und sah ein kleines, in sich gekrümmtes Bündel auf dem Pflaster liegen. Offensichtlich war die Frau krank und - wie auch immer - hier in diesem Kloster gestrandet.
Er ging zu ihr und sagte: „Frau, wer bist Du und was treibt Dich zu unserem Kloster?“ Die Frau blickte schüchtern auf und sah um sich herum die Brüder, den Cellerar, den Prior und diesen hochgewachsenen Abt stehen. Sie sagte nichts, sondern schaute den Abt nur an. Ihre Augen hatten etwas Trauriges, aber waren sehr stechend und vor allem grün.
Der Abt erschrak und wendete seinen Blick ab.
Der Prior sprach den Abt an: „Mein Abt, diese Frau muss sofort vor die Türen des Klosters geworfen werden. Sie ist im Klausurbereich. Das geht nicht.“
Der Cellerar, ein kleiner dicker Mann, der den Prior noch nie wegen seiner Prinzipienreiterei leiden konnte, trat hervor und sagte: „Mein Abt, jeder Blinde sieht doch, dass diese Frau unsere Hilfe benötigt. Lassen Sie mich diese Frau gemeinsam mit unserem Apotheker pflegen und wenn Gott es will, sie heilen.“
Die Brüder murmelten alle durcheinander. So ein Durcheinander hatte der Abt in seinem Kloster noch nie erlebt.
Schweißperlen traten auf seine Stirn und er sah die Frau noch einmal an. Der gleiche stechende Blick traf ihn und er wurde sehr unsicher.
Der Prior sagte fast schon drohend: „Mein Abt ...“
Der Abt sagte etwas verunsichert: „Bringt die Frau erst einmal in den Stall und lasst uns nach dem Hochamt das Kapitel einberufen.“
Das Kapitel, die Klosterversammlungen, in der alle relevanten Klosterdinge besprochen wurden, kam nach dem Hochamt im Kapitelsaal zusammen.
Der Abt nahm seinen zentralen Stuhl ein und die Brüder saßen um ihn herum.
Nun sagte der Abt: „Tragt Eure Meinung zu dieser Frau vor.“
Der Prior meinte: „Es gibt nichts vorzutragen mein Abt, unsere Regeln sind klar. Diese Entscheidung ist getroffen. Die Frau muss hinausgeworfen werden.“
Viele der Brüder bejahten diese Meinung und nickten still.
Schon wieder trat der Widersacher des Priors, der Cellerar auf und meinte: „Mein Abt, Gott ist barmherzig und wir haben nicht das Recht, diese Frau hinaus zu werfen. Sie wird draußen in dem beginnenden Herbst und später im Winter sterben. Wir müssen sie pflegen gemäß unserem Hilfeauftrag.“
Der Prior schrie dazwischen: „Hier hat keine Frau im Kloster zu sein. Das ist gegen unsere Klosterregel. Wir sind hier alle in Klausur. Und im übrigen bringen Frauen nur Unheil.“ Der Abt fühlte sich hin- und hergerissen und sprach: „Brüder, geht mit mir in die Kirche und betet mit mir für eine gute Entscheidung.“
Wieder ging ein Gemurmel durch die Bruderschaft.
Der Abt hatte sie noch nie um Hilfe gebeten bei einer Entscheidung. So strebten sie alle zum Beten in die Kirche.
Der Cellerar, der als Letzter hinausging, nahm den Apotheker am Arm und zog ihn hinweg in Richtung Stall.
Der Prior, der offensichtlich Augen auf dem Rücken hatte, winkte zwei Brüdern mit den Augen zu, die wiederum still und heimlich dem Cellerar und dem Apotheker nachstellten. Alle anderen Brüder folgten dem Abt und beteten für die Entscheidung des Abts.
Der Abt kniete sich mitten in die Kirche und bat Gott um Entscheidungshilfe. Er betete mit großer Inbrunst.
Für die Bruderschaft wurde es eine lange Nacht und am frühen Morgen stand der Abt auf und sagte zu seinen Brüdern: „Brüder, es steht eine Arbeitswoche vor uns, wir verschieben die Entscheidung um eine Woche. So lange soll die Frau im Stall bleiben.“
Das hagere Gesicht des Priors mit seiner langen Hakennase wurde aschfahl und man sah ihm seine Wut an. Er ging hinaus und ging hinauf zum Skriptorium. Dort warteten die beiden Brüder, denen er das Zeichen gegeben hatte.
„Mein Prior“ sagte der eine beflissentlich und untergeben, „der Cellerar und der Apotheker haben die Frau gepflegt und berührt. Das geht doch nicht.“ Der andere nickte und stimmte zu. Der Prior lächelte kalt und ging dann seinen alltäglichen Arbeiten nach.
Der Abt, der in der Woche an seinem Schreibtisch saß, wurde jeden Tag unruhiger.
Er spürte die Unsicherheit und die Unruhe der gesamten Bruderschaft und war sehr unentschlossen. Er hörte die Worte des Priors und er hörte die Worte des Cellerars. Und in den Worten der beiden Brüder konnte er den Willen Gottes spüren. Die ganze Woche über ließ er einzelne Brüder, insbesondere die hervorragenden Theologen kommen und ließ sich beraten.
Am Ende der Woche rief er die Kapitelversammlung wieder zusammen und fragte: „Wie geht es der Frau?“
Der Prior stand auf und sagte: „Offensichtlich sehr gut, da unser Cellerar sich sehr viel um sie kümmert.“
Der Cellerar errötete. Bevor er seinen Kopf demutsvoll nach unten neigte tötete er mit seinen Blicken den Prior. Er blieb jedoch stumm.
Ein kleiner Mönch, der eigentlich nie etwas in dieser Versammlung sagte, sprach: „Mein Abt, diese Frau muss aus der Klausur raus“ und dabei zitterte er, als wäre der Teufel hinter ihm her. Er war sichtlich durch die Präsenz dieser Frau gestört. Ein Anderer sagte: „Mein Abt, Du hast doch den Blick dieser Frau gesehen. Es ist der Teufel selber, der ins Kloster eingezogen ist. Hinaus, fort mit ihr“ und einige stimmten in diese Forderung mit ein.
Als der Prior dies hörte, schob er die Kapuze seiner Kutte über seinen Kopf und als niemand sein Gesicht sah, lächelte er still.
Der Abt schaute in die Augen des Cellerars, der mit Tränen in den Augen durch ihn hindurch sah. Der Abt war sehr hin- und hergerissen. Er wollte den stechenden Blick dieser Frau nicht mehr sehen, weil er ihn sehr verunsicherte. Trotzdem war Barmherzigkeit und Liebe ein Gebot Gottes. Wie sollte er sich wohl entscheiden?
Und so gingen die Wochen und Monate dahin und man sah den Abt häufig in der Kirche Gott um eine Entscheidung bitten.
Der Prior hatte mittlerweile durchgesetzt, dass man dem Apotheker und dem Cellerar verbot die Frau zu pflegen. Er ließ jedoch seine Spione weiterhin im Einsatz. Die gesamte Bruderschaft war verwirrt und aufgebracht. Das Leben im Kloster war nicht mehr dasselbe: die Brüder arbeiteten unregelmäßig und die Gebetsstunden waren nicht mehr von allen Brüdern besucht. Der Cellerar, dessen Augen immer trauriger wurden, hatte offensichtlich in den letzten Wochen vor allem sich selber mit seinem Wein bedient. Schon oft in der Frühe wankte er durchs Kloster: offensichtlich stockbesoffen.
Eines Tages - er wusste - dass er vom Prior genau beobachtet wurde, schleppte er sich zum Abt hin, kniete vor ihn und sagte: „Mein Abt, ich bitte Dich, triff Deine Entscheidung und hilf dieser Frau.“ Der Abt schaute ihn traurig an und meinte: „Bruder, ich mache mein Bestes. Ich bete Tag und Nacht um eine Entscheidung Gottes.“
Der Cellerar schaute ihn unglaubwürdig an, schüttelte den Kopf und ging ohne noch etwas zu sagen, hinaus.
Am 1. Advent – es war in dem Tal schon sehr kalt geworden und der erste Raureif lag morgens auf den Feldern - rief der Abt seine ganze Bruderschaft zusammen. Die Brüder waren aufgeregt: hat der Abt seine Entscheidung getroffen?
„Ich habe eine große Entscheidung getroffen“ sprach der Abt. In der Kirche wurde es kathedralenstill. Man hörte den Abt atmen. Er sprach weiter: „Ich werde oben in den Bergen in unsere alte Einsiedelei ziehen, um dort Gott ganz alleine um eine Entscheidung zu bitten.“ Die Brüder schauten ihn alle unverständlich an und der Bruder, der der Frau jeden Tag vor den Stall etwas zu essen legte, sagte: „Mein Abt, die Frau isst jeden Tag weniger. Sie braucht Hilfe.“ Der Prior stand auf und sagte: „Fort du Wicht. Sie gehört nicht hier her.“ Daraufhin sagte niemand mehr etwas.
Der Abt jedoch traf seine Vorbereitung und danach zog er mit seinem Bündel und seinem Stab aus dem Kloster.
Nach einem langen Tagesmarsch war der Abt in der alten Einsiedelei - einer Halbhöhle - angekommen. Er richtete sich kurz ein und fing an zu beten. Er betete Tag und Nacht und die Zeit verging und verging. Er betete jeden Tag und jede Nacht intensiver um Aufklärung, was er entscheiden sollte.
Seine Gebete waren so intensiv, dass er nach einer Weile gar nicht mehr aus der Höhle ging und somit das Zeitgefühl völlig verlor. Der Tag war für ihn wie die Nacht und er betete und betete. Die Zeit verging ...
Nach dieser langen Auseinandersetzung mit Gott selbst spürte er eines Tages: Das ist die richtige Entscheidung. Jetzt wusste er, wie er zu entscheiden hatte. Er spürte eine große innerliche Freude und Erleichterung. Er nahm somit sein Bündel und ging hinaus aus seiner Höhle. Er merkte, dass es Frühjahr war und er genoss die ersten Sonnenstrahlen und die aufwachende Natur und ging frohen Mutes hinunter. Nach einem langen Tagesmarsch kam er in seinem Kloster an.
Er ging hinein und wollte sofort die Brüder zusammen rufen, um ihnen seine Entscheidung – die Entscheidung Gottes – mitzuteilen.
Das Kloster selbst war jedoch verändert. Im Hof wuchs Unkraut und er sah keinen Mönch im Hof. Er lief schnell in die Kirche, doch diese war offensichtlich verlassen. Er ging durch den Kapitelsaal und durchs Skriptorium. Im Skriptorium war das Dach an einer Stelle kaputt und die Sonnenstrahlen schienen auf den schon faulenden Boden.
Der Abt war entsetzt. Er ging zur Klosterpforte zurück, die immer mit einem Mönch besetzt war. Doch auch hier war niemand. In seiner Panik lief der Abt hinunter ins Dorf, wo er einen Mann mit einem Wagen voll behauener Steine traf und sagte: „Guter Mann, Du kennst mich ja, ich bin der Abt Deines Klosters.“ Der Mann schaute ihn sehr verstört an und sagte: „Ja, ich erkenne Dich. Du bist sehr viel älter geworden.“ Der Abt meinte: „Wieso älter? Ich war einen Winter in der Einsiedelei und betete um eine wichtige Entscheidung.“ Der Mann schaute ihn mit großen Augen an. „Mein Abt, geht es Ihnen gut?“ Der Abt sagt: „Ja, wunderbar, ich habe meine Entscheidung nach langem Beten getroffen. Aber was ist in meinem Kloster los? Kannst du es mir sagen? Wo sind meine Brüder?“
Der Mann schaute verstört weg. „Mein Abt, dann gehen Sie wohl besser zum Dorfvorsteher.“ Der Abt lief schnell die Treppe hinauf und ging zum Dorfvorsteher und verlangte Aufklärung. Der Dorfvorsteher schaute ihn völlig erstaunt an und sagte: „Mein Abt, dass Sie leben?“ Der Abt wurde wütend und verlangte vom Dorfvorsteher: „Sag’ mir, was ist in meinem Kloster los?“ Er sagte: „Mein Abt, Sie sind seit mindestens 10 Jahren weg. Es ist großes Unheil über Ihr Kloster gekommen. Als Sie weg waren ging es noch eine kurze Weile wie gewohnt: Das erste Jahr haben wir unsere Ernte abgeliefert und es war alles in Ordnung. Dann liefen jedoch Gerüchte durch das Dorf, dass man die Frau in der Zelle des Cellerars gefunden hatte und der Prior setzte durch, dass man ihn und diese Frau aus dem Kloster warf. Da unten in der alten Hütte am Bach richteten sie sich ein und dort lebten sie eine Weile. Jedoch der Prior gab keine Ruhe und ging selber mit einer Abordnung von Mönchen nach Rom. Er wollte eine Strafe für den Cellerar und die Frau erwirken. Jedoch diese Abordnung kam nie wieder. Die Mönche, mein Abt, waren dann so verunsichert, dass sie sich in alle Winde zerstreuten.“
Der Abt konnte zwar kaum noch reden, aber er brachte noch ein Danke heraus und ging wieder hinaus. Dort stand immer noch der Mann mit dem Wagen. Der Abt merkte jetzt, dass er die Steine auf dem Wagen erkannte. Es waren die Steine seines Klosters. Der Abt schaute auf die Steine, schaute den Mann an. Der Mann stammelte: „Mein Abt, ich bin arm und da oben braucht die Steine niemand mehr.“
Wie vor den Kopf geschlagen ging der Abt zu der Hütte am Bach. Dort fand er den Cellerar, der mittlerweile den ganzen Tag soff.
Als der Cellerar seinen Abt sah, schaute er ihn erbost an und sagte zu ihm in einem sehr schroffen Ton: „Hinaus, Du Abt, der keiner ist. Hinaus, mit Dir will ich nichts mehr zu tun haben.“ Der Abt fragte den Cellerar: „Wo ist die Frau?“
Der Cellerar schrie: „Hinaus“.
Der Abt ging.
Man hörte nichts mehr von dem Abt seit diesem Tage. In dem Dorf hörte man nur, dass der Prior in Rom große Karriere gemacht hat und einer der engsten Berater des Papstes war. Niemand wusste, was mit der Frau geschehen war.
Heutzutage sind von diesem Kloster nur noch Ruinen übrig.
Jedoch an kalten Wintertagen erzählen sich die Alten im Dorf, dass man an sehr kalten Tagen in den Klosterruinen eine Männerstimme hört, die laut um Verzeihung schreit.
Dies sind jedoch nur die Geschichten der Alten, die Jungen glauben daran nicht mehr.