2005: Über die Nähe

Es war in der Zeit, wo in unserem alten Europa die benediktinischen Kloster in ihrer Blüte standen. Die heute bekannten wertvollen Kodexe wurden gerade geschrieben, die Kräuterheilkunst wurde von den alten Kelten übernommen und dieses Wissen in Klöstern zusammengefasst, Klostergebäude und Kunstwerke wurden zur Herrlichkeit Gottes errichtet.

Zu dieser Zeit gab es in einem abseits gelegenen Moor ein kleines, bescheidenes Frauenkloster, das noch aus der Anfangszeit der Klosterbewegung stammte. Das Kloster hatte nur eine kleine Kapelle, Schlafgemächer für die Nonnen und den Kapitelraum, der Raum, wo sich die Nonnen jeden Tag trafen. Küche und Essensräume waren sehr bescheiden und bestanden alle aus alten Steingebäuden.

Das Kloster hatte keinen großen Zulauf, da es mit den Jahren im Moor in Vergessenheit geraten war und es wurde nur von wenigen Menschen besucht. Diejenigen wussten jedoch, dass dieses Kloster ein wahrer Schatz beherbergte. Die Äbtissin mit den wenigen Nonnen, die es dort gab, hatte die Kräuterheilkunst so verfeinert, dass die Salben und Kräutermischungen große Heilkraft besaßen. Die Äbtissin hatte sich schon damit abgefunden, dass sie dieses Kloster bis an ihr Lebensende führen würde, ohne dass dieses zu einer großen Blüte kam. Alle Nonnen hatten vor ihr großen Respekt, da sie mit den Heilkräutern von gleich zu gleich reden konnte und der Kräutergarten, der gleich links neben der Kapelle lag, war einzigartig. Alle Nonnen arbeiteten regelmäßig in diesem Kräutergarten. Jedoch hinter dem Kapitelsaal, gleich neben der großen alten Eiche, gab es einen winzigen Kräutergarten. Die Nonnen wussten, dass hier die Äbtissin die wunderbarsten Geheimnisse der Heilkräuter behütete. Die Nonnen respektierten, ohne dass dies je ausgesprochen wurde, diese Domäne der Äbtissin. Aus Erfahrung wussten die Nonnen, dass die Heilkräuter von dort diejenigen mit der erstaunlichsten Heilkraft waren.

So gingen die Jahre dahin und die Äbtissin wurde etwas traurig. Sie machte sich Sorgen über den Nachwuchs, und was aus dem wunderbaren Wissen der Nonnen werden würde.

Eines Tages, es war im Herbst und das Moor lag unter tiefem Nebel, strandete ein junger Mann im Kloster. Helle Aufruhr war unter den Nonnen, da sie keinen Besuch, schon gar nicht von Männern, gewohnt waren. Der junge Mann bemerkte, das Durcheinander, das er verursachte und ging einige Schritte zurück. Man holte schnell die Äbtissin und als sie auftrat wusste der junge Mann sofort, die kann ich ansprechen.

„Guten Tag“, sagte der junge Mann, „ich hörte von einem alten Mann, in dem Dorf, von dem ich stamme, dass hier irgendwo in diesem Moor ein kleines Kloster liegt. Bin ich hier richtig?“ Die Äbtissin zog etwas erstaunt die Augenbrauen hoch und sagte „Vielleicht, was wollen Sie denn hier?“ Der junge Mann sagte: „Es wäre mir schon geholfen, wenn ich einige Tage hier übernachten könnte, um dann weiter zu ziehen.“ Die Äbtissin, für die diese Situation ebenso neu war, rief die Nonnen im Kapitelsaal zur Beratung zusammen. Der junge Mann sah sich draußen etwas um und an seinem Gesicht sah man, dass es ihm gefiel.

Die Äbtissin trat hervor und sagte ihm: „Junger Mann, sie können hier bleiben und Herberge in unserem Kapitelsaal beziehen. Wir möchten Sie jedoch bitten, sich an unsere Klosterregeln zu halten, d. h. Sie müssten, vor 4:00 Uhr aufstehen, so dass wir unseren Raum, wie gewohnt, nutzen können. Wir können Ihnen für einige Tage Herberge bieten.“ Der junge Mann dankte und richtete sich in einer kleinen Ecke im Kapitelsaal ein.

Die Äbtissin schlief schlecht und träumte. Am anderen Morgen, als sie unruhig aufwachte, entschied sie, ich gehe in den Kräutergarten, da werde ich Ruhe finden. Sie ging morgens früh hinaus und hörte plötzlich eine Stimme. Sie blieb stehen und im Nebel im Kräutergarten sah sie den jungen Mann mit den Pflanzen reden. Sie blieb still stehen und wartete, bis sich der junge Mann aus dem Garten entfernte. Dann ging sie zu ihren Pflanzen und spürte, die Heilpflanzen hatten gehört, was der junge Mann zu ihnen sprach und waren entzückt und beeindruckt. Die Äbtissin, die inneres Glück verspürte, ging in die Kapelle und suchte Rat bei Gott. Sie war irritiert und unsicher. Sie hatte sich immer gewünscht, dass eine ihrer Nonnen diese Gabe hatte und jetzt kam ein junger Mann, der zumindest behauptete, er wäre geschickt aus seinem Dorf und er hatte diese Gabe. Sie betete Stunden und als sie zum Abendessen über den Hof in das Gebäude ging, war sie sehr erstaunt, dass der junge Mann mit den anderen Nonnen dabei war das Tageswerk mit den Heilkräutern zu verbringen. Eine Nonne kam zur Äbtissin und sagte: „Äbtissin, der junge Mann, der ist begabt.“ Und die Äbtissin sagte: „Ich glaube, er spricht auch zu den Pflanzen.“ Wiederum verspürte die Äbtissin Glück und Unsicherheit. So gingen einige Tage der Unsicherheit und des Glücksgefühls dahin. Der junge Mann gehörte plötzlich zum Kloster und die Äbtissin hatte ein schlechtes Gewissen. Es war gegen die Klosterregel und doch konnte sie von dem jungen Mann nicht lassen, da dieser offensichtlich ihre eigene Begabung hatte. Manche Nonnen waren erstaunt, dass die Äbtissin ihn nicht fortschickte. Manche munkelten, ob das denn so richtig sei.

Nach einer Weile sah man plötzlich die Äbtissin und den jungen Mann bei langen Abendspaziergängen im Moor nebeneinander gehen. Sie redeten kaum, jedoch hatte es von außen den Anschein, als wären sie in einem intensiven Dialog und als ob sie ohne viele Worte viel austauschen würden. Manche Nonnen flüsterten, wie die Äbtissin aufblühte und wie ihre Augen, jedes Mal, wenn der Mann zugegen war, hell aufleuchteten. Sie waren jedoch alle zu schüchtern, irgend etwas zu sagen. Die Ehrfurcht vor der Gabe von diesem jungen Mann ließen sie still bleiben. An einem Abend auf einer dieser langen Spaziergänge sah eine der Schwestern, wie die Äbtissin den jungen Mann mit in den Kräutergarten hinter der Eiche mitnahm. Sie ging sehr schnell zu den anderen Nonnen und sagte: „Sie hat ihn mitgenommen.“ Die Nonnen waren betroffen und sie entschieden alle in die Kapelle beten zu gehen. Was sie jedoch nicht voneinander wussten: sie beteten alle einzeln, dass der junge Mann bliebe, weil es der Äbtissin offensichtlich sehr viel besser ging und das Kloster dadurch vielleicht aufleben würde. Niemand machte sich Sorgen, dass das eigentlich gegen die Regel war, sondern alle beteten inbrünstig, dass er blieb. Und so war das dann auch. Der junge Mann gehörte fortan zum Kloster und übernahm immer und immer mehr wesentliche Aufgaben im Heilkräutergarten und den Pflanzen ging es unter seiner Hand gut. Alle Mitbewohnerinnen im Kloster erstarkten und sie hatten sogar die Kraft, ihre Gebäude zu renovieren. Nun sah man die Äbtissin und den jungen Mann regelmäßig zu dem der Äbtissin vorbehaltenen Kräutergarten hinter der Eiche gehen. Sie brachten von dort immer wieder besonders gute Kräuter mit und man gewöhnte sich bei diesem Anblick an diesen Rhythmus. Ein wenig eifersüchtig waren die Mitschwestern, dass sie nie in diesen Garten mitgenommen wurden. Der junge Mann wurde immer sicherer und führte immer mehr den Ton im Kräutergarten an. Er verfeinerte manche Samen noch und manchmal sah man die Äbtissin mit gehobenen Augenbrauen, jedoch still, wie sie seinen Anweisungen zuhörte.

Es war an einem lauen Sommerabend, da sah man den jungen Mann mit einem Spaten und anderen Gartengeräten, in das kleine Kräutergärtchen – dieses mal alleine – hinter der Kapelle gehen. Die Äbtissin war mit den Nonnen in der Kapelle beim Beten. Spät am Abend sah man den jungen Mann wieder kommen, stark ermüdet. Alle legten sich wie immer schlafen. Am anderen Morgen hörte man plötzlich durch das Moor einen Schrei. Es war ein furchterregender Schrei, wie wenn er von einem verletzten Tier käme. Alle Nonnen schreckten auf und liefen auf den Hof. Auch der junge Mann ist davon aufgewacht und kam raus. Er lächelte und irgendwie schien er zu wissen, um was es ging. Die Äbtissin kam mit großen Schritten vom kleinen Garten hinter der Eiche her und schrie nur noch. Sie schrie und schrie und als sie den jungen Mann sah, der immer noch lächelte, schlug sie wild auf ihn ein. Die Nonnen, die nun so etwas gar nicht gewöhnt waren, drückten sich alle an die Wand des Klosters und sahen ängstlich zu. Die Äbtissin schrie nur noch, „das war mein Garten, was hast Du mit meinem Garten gemacht? Ich habe Dir so vertraut, ich habe Dir so vertraut“ und sie schlug auf ihn ein und der junge Mann antwortete nur, „aber das wolltest Du doch, Du hast doch gesagt, dass ich ...“ Die Äbtissin schrie: „Nichts habe ich gesagt. Du hast alles kaputt gemacht.“ Der Mann fing an sich zu wehren und schlug einfach zurück. Die schüchternen Nonnen liefen in die Kapelle und wussten gar nicht, was sie beten sollten. Sie hofften nur, dass es aufhörte. Doch es ging den ganzen Tag. Sie wagten nicht aus der Kapelle zu gehen. Abends wurde es ruhiger und man hörte den jungen Mann rufen, „ich gehe fort, Du willst nichts teilen, Du willst alles für Dich behalten und ich werde meine Gabe woanders einsetzen.“ Die Äbtissin schrie: „Fort mit Dir, fort, Du hast mein Vertrauen missbraucht.“ Und die Nonnen hörten in der Kapelle, dass der Mann hinaus in die Nacht ging. Man sah die Äbtissin wochenlang nicht mehr im Kloster. Niemand wusste, wo sie war und die Nonnen waren ganz hilflos und sie entschieden, dass sie weitermachen würden wie bisher. Die Kräuter wuchsen zwar weiter, aber man spürte, dass die Heilkraft nachließ. Nach einigen Wochen war die Äbtissin plötzlich wieder da. Mit sehr, sehr traurigen Augen schaute sie die Nonnen an und sagte: „Wir machen weiter.“ Man sah sie morgens wieder mit den Kräutern reden. Die Nonnen spürten jedoch, die Kräuter antworteten ihr nicht mehr. Die Äbtissin sah alt aus und ging nicht mehr ins Kräutergärtchen hinter die Eiche.

Von diesem Zeitpunkt an änderte vieles im Kloster und das Kloster nahm auch andere typische Klosterarbeiten auf. Man machte Kerzen, Goldbrokate und so wuchs das Kloster und wurde zu einem bekannten Kloster in der ganzen Region. Nur die Alten sprachen noch von der Heilkraft von früher. Die Äbtissin jedoch erholte sich nie von diesem Tag. Das Kloster war erfolgreich, aber nichts war mehr so schön wie damals. Dies spürten die alten Nonnen und sie erzählten den jungen Nonnen, die mittlerweile dazugekommen waren, von dieser schönen Zeit.

Eines Tages kam ein Händler vorbei, der durch alle Herren Länder gereist war und er erzählte aus einem fernen Land von einer großen Kräuterhandlung, die am Rande einer wunderbaren Stadt Kräuter in die ganze Welt verschickte. Die Äbtissin, die das auch hörte, fragte den Händler: „Hast Du solche Kräuter dabei?“ „Ja“, sagte der Händler, „ich habe noch einen Rest.“ „Kannst Du sie mir zeigen?“ „Gerne, Äbtissin“. Der Händler gab ihr eine Holzkassette. Die Äbtissin öffnete diese und nahm einige Kräuter in die Hand. Mit der anderen Hand streichelte sie diese Kräuter und man sah in ihren Augen das Glück aus früheren Tagen und gleichzeitig eine große Traurigkeit. Sie stand da mit ihren Kräutern in der Hand und sie wusste, von wem sie kamen.

Dies ist eine Geschichte aus alter Zeit. Nie jemand erfuhr jedoch, was in diesem kleinen Kräutergarten hinter der Eiche passiert war. Alle hatten jedoch verstanden, dass etwas sehr Wertvolles und sehr Wundervolles für immer zerstört war. Die Kräuter jedoch, die aus jener Zeit stammten, behielten ihre Heilkraft.

 

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