2018: Was denkt eigentlich?

„Ein Jeder denke doch an sich selbst, dann ist an alle gedacht.“

Über die veränderte alltägliche Brutalität und neue Deals.

 

Was denkt eigentlich das arme Kind, das mit seinem Hartz-IV-Vater über den Weihnachtsmarkt läuft und die vielen unerreichbaren Geschenke sieht und weiß, dass Papa nein sagen wird?

Es denkt bestimmt: „Gut, dass ich vom Sozialamt kulturelle und bildungsorientierte Sachleistungen erhalte.“

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Was denkt dieser Hartz-IV-Vater, der sich innerlich schämt, dass er seiner Tochter nichts, aber auch gar nichts, was normal ist, bieten kann?

Er denkt bestimmt: „Dem Tüchtigen und dem Kämpfer gehört der Erfolg.“

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Was denkt der 18jährige Flüchtling aus Mali, als er aufgibt in den Wellen des Mittelmeers zu überleben, und entscheidet, dass hier sein Weg endet und dieses Meer sein Grab sein wird?

Er denkt bestimmt: „Es ist richtig, dass Europa nicht die Misere der Welt willkommen heißen kann.“

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Was denkt die jesidische Frau während der 12. Vergewaltigung, nachdem sie sich aufgegeben hat?

Sie denkt bestimmt: „Herr Orbán tut gut, nur wenig christliche Flüchtlinge aufnehmen zu wollen.

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Was denkt das kleine Kind, das von Mutter und Vater sein ganzes Leben lang zur Prostitution gebraucht wurde?

Es denkt bestimmt: Es ist gut, dass die Expertin vom Jugendamt in Freiburg seiner Mutter geglaubt hat: Es gibt nur gute Mütter.“

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Was denkt der Schwule, der in einer amerikanischen Kleinstadt von Trump-Wählern brutal zusammen geschlagen wird?

Er denkt bestimmt: „Schwule - wie Schwarze - sind schlechte Menschen, denn sonst würden sie ja nicht geschlagen.“

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Was denkt der kleine Sohn, wenn er mit Mami und Mama, dem lesbischen Paar, am Sonntag seine Reitstunde nimmt?

Er denkt bestimmt: „Es ist sehr gut, dass ich keinen Papa habe.“

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Was denkt der französische Trucker, wenn sein ehemaliger Lastwagen vor ihm mit einem litauischen Nummernschild und einem bulgarischen Fahrer vorbei fährt, der zweihundert Euro im Monat verdient und billigeres Obst aus Spanien nach Frankreich bringt?

Er denkt bestimmt: „Gut, dass es freie Fahrt für freie Unternehmen in Europa gibt.“

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Was denkt die rechtschaffene Oma, die ihr ganzes Leben lang gearbeitet hat,  und - jetzt am 1. Advent - von ihrer Rente ihren Enkelkindern keine Geschenke machen kann?

Sie denkt bestimmt: „Gut, dass die Renten sicher und gerecht sind.“

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Was denken die Väter, die, getrennt von ihrer Ehefrau, ihre Kinder, Töchter wie Söhne, nur noch 14-tägig sehen dürfen, weil ihre Frauen das so wollen und nur, weil sie Männer sind?

Sie denken bestimmt: „Gut, dass Frauenrechte gestärkt werden.“

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Was denkt die Altenpflegerin, die für einen Hungerlohn, nicht mehr besuchte alte, gebrechliche Eltern versorgt.

Sie denkt bestimmt: „Es ist gut, dass unsere Gesellschaft so viel übrig hat für unsere Alten.“

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Was denkt der Vater, der die elterliche Sorge von der Richterin abgesprochen bekommt, weil die Mutter sonst keine Ruhe gibt?

Er denkt bestimmt: „Gut, dass wir eine nicht sexuell diskriminierende Justiz haben.“

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Was denkt das singende Kind, das zwischen dem Sanktus und dem Agnus Dei vom Vikar gevögelt wird?

Es denkt bestimmt: „Der Mangel an Pfarrern macht die Gesellschaft schlechter.“

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Was denkt eigentlich die Ausländerin in Italien?

Was denkt eigentlich der polnische Taxifahrer in London?

Was denkt eigentlich der abgetriebene Fötus mit Trisomie 21 über das Leben?

Was denkt eigentlich der mittellose Arbeitslose über Sabbatjahr, Home-Office und Elternzeit?

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Was denken eigentlich

die Juden,

die Schwarzen,

die Ausländer,

die Schwulen,

die Lesben,

die schutzlosen Kinder,

die Prostituierten,

die Armen,

die Abgetriebenen,

die Geschlagenen,

die im Knast Sitzenden,

die Verfolgten,

die Krüppel,

die Alten,

die Ausgestossenen,

die als Freiwild Freigegebenen,

die Gehetzten in Dresden,

die Zigeuner im Orbán-Land,

die Kurden in der Türkei,

die arbeitslosen, fetten Amerikaner, die vor allem auch unter Trump Looser  bleiben,

die hungernden Südamerikaner,

die chinesischen Wanderarbeiter,

die französischen Juden, die sicherheitshalber nach Israel auswandern,

alle nicht Weißen über die Faschisten, die groß in Mode sind,

die Getöteten,

die Verlassenen,

die vergewaltigten Buben, Mädchen, Frauen, Männer,

die Geschlagenen,

die arbeitenden, mißbrauchten Kinder?

Was denken sie jetzt wieder alle?

Es kostet Mut zu fragen, was sie wirklich denken.

Von unseren Werten bleibt nichts übrig.

 

jd

Zu diesen Weihnachtsgedanken 2018 ein persönliches Wort:

Ich habe letztes Jahr im Rahmen des Weihnachtsbriefes über „meine“ Frau Keßler, der ich mich immer noch sehr verbunden fühle, und deren ungerechten Tod geschrieben:

„Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.“

 

Dieser Gedanke hat mich das ganze Jahr über nicht losgelassen.

Ich bin 1960 geboren und habe in meinem Alltag gelernt, dass jeden Tag die Welt besser wird, etwas liberaler, etwas gerechter: meine Eltern hatten etwas mehr Mittel, um uns Kindern das Beste anzutun. Der Welt ging es etwas besser, die Justiz war etwas gerechter, jeden Tag ein Stück auf der ganzen Welt mehr.

Ich bin aufgewachsen mit der Sicherheit, dass, je älter ich werde, die Welt besser wird.

Die Psychiatrie wurde offener, Europa wurde spürbarer, Schwule wurden nicht mehr zu Kriminellen und für eine Weile zu Kranken und dann jetzt zu Normalen, Dritte-Welt-Arbeit war angesagt, und wir glaubten wirklich, dass der gesponserte Tiefwasserbrunnen etwas brachte.

Ich danke für diese Zeitperiode.

Heute geht die Veränderung anders und in eine grausame Richtung:

Man darf wieder Ausländer hetzen, man darf Kinder machen ohne Vater und ohne Mutter, Alte werden an den Rand geschoben, Kinder werden mißbraucht, um eigene Interessen durchzusetzen, dieses reiche Land hat kaum Geld für Schulen übrig, in Italien herrschen Faschisten, in Frankreich waren sie knapp davor, …

Man darf wieder wie ganz früher.

Ich widme diese Gedanken, und sicherlich auch meine Bitterkeit über diese Entwicklung, den Menschen, die mich dieser anderen Welt näher gebracht haben:

Meinen Eltern,

meinen beiden 8 und 11 Jahre älteren Schwestern,

drei Jesuitenpatern (die mich nicht mißbraucht haben),

die mir alle nur das Teilen, die Großzügigkeit und viele Dinge, die gerade wieder abhanden kommen, beigebracht haben.

Meine Eltern und zwei von den Jesuitenpatern sind tot.

Meine Schwestern und ein Pater lebt noch.

Ihnen widme ich diese „Weihnachtsgedanken“ 2018.

Mit meiner tiefen Verbundenheit und meinem tiefen Dank.

 

 

Für Ditti, Jules, Elisabeth, Christiane, Paul, René und Fernand.

In tiefer Verbundenheit und tiefem Dank.

 

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