2017: Frau Madeleine Keßler ist tot

Frau Madeleine Keßler ist tot

Gerechtigkeit?
Die Hoffnung stirbt vielleicht zuletzt, doch sie stirbt.


Meine liebe Frau Keßler,

Sie sind tot!

Sie sind am Freitag, den 01.12.2017 während einer Bronchoskopie in der Universitätsklinik gestorben, unter Narkose, allein, und - so wie Ihr ganzes Leben war - mutig.

Sie waren 30 Jahre alt.
Sie sind jetzt tot!

Damit haben Sie sich vielleicht sogar zum ersten mal aufgezwungen: Zum 1. Advent inmitten der Weihnachtsgefühlsduselei sind Sie gestorben.

Für Sie, Frau Keßler, möchte ich nicht eine verklausulierte Geschichte schreiben, noch eine Geschichte nach dem Motto: „Wer verstehen will, kann verstehen.", sondern ich möchte hier direkt mein Entsetzen, meine Traurigkeit, meine Wut und dieses entsetzliche Elend, welches Ihr Tod auslöst, ausdrücken.

Sie waren die mutigste Frau, der mutigste Mensch, den ich kenne.

Zu Ihrem Leben:
(Oder zu dem, was ich darüber weiß.)

Als Sie vier Jahre alt waren, also noch nicht lange her, vor 26 Jahren, ist Ihre Mutter abgehauen, und Sie blieben mit zwei weiteren Schwestern und Ihrem Vater alleine.

Wie auch immer hatten Sie keine Wahl:
Sie mussten schnell erwachsen werden.
Ihre Kindheit, Ihr Recht auf Kindsein mussten Sie vakuumieren, tiefgefrieren oder - wie auch immer - konservieren.

Sie haben für Ihren Vater, dessen Restaurant, und für Ihre Schwestern gesorgt.

Wie es wirklich für Sie war, haben Sie für sich behalten.

Wir haben Sie nicht einmal darüber jammern hören. Nicht einmal!

Sie haben erzählt, dass die studierte Schwester dann später etwas von oben herab auf Sie heruntergeschaut hat.
Auch darüber hörten wir Sie nie sich ärgern.

Irgendwann musste Ihr Vater das Restaurant aufgeben, weil das Geld nicht reichte.

Restaurant, das ist wirklich ein wichtiges Wort in Ihrem Leben.

Ich habe Sie kennengelernt in der Orangerie, in diesem sogenannten schönen Städtchen Freiburg, wo Sie der Sonnenschein als Kellnerin waren.

In der Orangerie habe ich Ihnen immer gesagt: „Sagen Sie doch bitte an, was da ist. Es ist kürzer, als das anzusagen, was nicht mehr da ist.

Das haben Sie sooo gut gemacht!

Die Orangerie musste auch aufhören, auch wegen dem Geld.

Sie ließen nicht locker. Ich hörte von einem Taxifahrer, dass direkt neben unserem Büro die „Orangerie-Leute“ ein Restaurant eröffneten.

Ich dachte: „Oh je, dann gibt es wieder nichts.”

Als ich Sie dann in der „Kräuterküche“, Ihrem neuen Restaurant, wieder gesehen habe, habe ich sofort gefragt, ob dies so weiter ginge wie in der Orangerie.
Sie haben mich mit Ihrem Blick getötet und Sie haben gesagt:
„Hier bin ich die Chefin, das gehört mir!”

Stolz waren Sie.

Damit die Peinlichkeit ganz meinerseits und sicherlich definitiv bei mir geblieben ist, empfahl ich Ihnen dann noch, dass dieser Dunkelhaarige, der auch aus der Orangerie stammte, damals wohl der Chef war, besser nicht hier arbeitet, weil dessen Freundlichkeit sehr speziell war.

Sie meinten darauf nur lapidar: „Mmh, das ist mein Freund.”

Sitzen blieb ein hochroter Kopf, der sich am liebsten in ein Mauseloch verkrochen hätte, vor lauter Schämen.

Ich habe diesen Freund, als Amir dann kennen gelernt.

Ich möchte ihm mit diesem Schreiben auch mein persönliches Leid und Beileid ausdrücken.

Frau Keßler, Ihr Leben ging weiter, wie Ihr Leben eben war:
Das Restaurant war nicht in den Normen gebaut: Der Vermieter hat es Ihnen nicht leicht gemacht, er wollte Ihnen sämtliche Kosten weiter reichen.

Wie immer:
Sie haben gekämpft.

Ihre Freundlichkeit ließ dennoch in keinster Weise irgendwelche Wünsche offen.

Später habe ich dann mitbekommen, dass Sie neben dem Restaurant, das Sie ab 18:00 Uhr übernahmen, Sie ganztags bereits in einem Basler Chemiekonzern als Sekretärin gearbeitet haben.

Ich muss mich kaum wundern, wieviel Menschen arbeiten, weil ich eher zu der Spitzengruppe, wie Frau Albers ebenfalls, gehöre.

Damals ist mir jedoch die Kinnlade hinunter gefallen und ich fragte: „Wann schlafen Sie, Frau Keßler?“
Die Antwort war: „Das frage ich mich auch.“

Ich war stolz auf mich, dass ich Sie als Sekretärin gewinnen konnte, was zumindest etwas Entlastung für Sie bedeutete.

Sie waren nicht nur mutig, sondern auch fleißig und haben anderen Leute einen Arbeitsplatz geboten. Und das alles mit 25 Jahren.

Frau Albers und ich waren uns immer einig, dass wir drei eine Familie sind.

Sie hatten Ihr Restaurant, was viel mehr für Sie war, als ein Restaurant:
Ein Stück Heimat, ein Stück Rache an die Ungerechtigkeiten, die Ihnen passiert waren, vielleicht sogar ein ganzes Stück Leben.

Doch, die Rechnung wird bekannterweise nicht ohne den Wirt gemacht:

Die Ungerechtigkeit hat dann wieder zugeschlagen.

Diagnose: generalisierter Krebs.

Kaum Überlebenschancen.

Frau Keßler, auch hier zeigte sich wieder Ihr unendlicher Mut:
Experimentelle Chemotherapie in Hamburg, keine Möglichkeiten mehr Kinder zu bekommen, Glatze, körperliche Einschränkung, …, und alles, was Sie nicht erzählt haben.

Darf es denn wirklich noch etwas mehr sein?

Und auch hier:
Kein Wort, kein Satz des Jammerns von Ihnen.

Sie haben mir und Frau Albers, als das Restaurant dann schließen musste, eine Pflanze geschenkt.

Ich habe immer auf die Pflanze geschaut und gedacht: So lange die wächst, lebt Frau Keßler.

Das war falsch.

Ich habe drei Tage vor Ihrem Tod noch mit Ihnen gesprochen und Sie zur Weihnachtsfeier eingeladen.

Sie haben kein Wort über Ihren Zustand gesagt.
Sie sagten: „Ich komme gerne.“

Am Tag darauf telefonierten Sie mit Frau Albers eine Stunde lang.

Frau Keßler:

Sie sind jetzt tot.

Sie waren 30 Jahre alt.

Sie haben nur gekämpft.

Sie haben immer verloren.

Sie haben nie gejammert.

Ihr Leben bestand ganz sicherlich nicht aus Hoffnung, nur aus purem Mut.

Ich möchte Ihnen, auch im Namen von Frau Albers, meinen tiefsten Respekt aussprechen. Sie sind ein Vorbild.

Ihr Tod ist Mist.



Für Madeleine Keßler.

Weihnachten 2017

Auch im Namen von Martina Albers.

Jacques Donnen



PS: Erlösend wäre, wenn Sie jetzt in Ihrem Kräutergarten wären, mit hunderten von frischen Kräutern, die Sie im eigenen Restaurant verarbeiten könnten.
Das ist aber nur ein Gedanke, der uns besser Ihren Tod aushalten lässt.
Sie sind tot.

 

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