2021: Der Ort an dem Erinnerungen verletzen - II

 

Von den Narben des Lebens,

von der Angst sie zu überwinden

und von den Schmerzen der Veränderung

 

 

Diese Geschichte bezieht sich auf die Weihnachtsgeschichte 2020, die Sie auf unserer Homepage lesen und downloaden können.

 

 

Der Touristenführer und die junge Frau

 

Unser Touristenführer aus dem kleinen mittelalterlichen Städtchen, es war gerade die Vorweihnachtszeit, stand dieses mal - einige Jahre später - alleine vor diesem sagenumwobenen Wald.

 

Er war arbeitslos, Corona hatte die Touristen unmöglich gemacht und er stand alleine mit dem Blick auf die alten Eichen und etwas weiter hinten mit dem Blick auf den Felsen.

 

 

Er lächelte als er dachte: „Tja, der Ort, an dem die Erinnerungen verletzen.“ Und er sinnierte über seine vielen Touristen, die er an diesen Ort geführt hat.

 

Sein Blick wanderte an diesen pflanzenbehangenen Felsen, den er hinten im Wald sah.

 

Er musste lächeln: Diese Legende von diesem Ort, an dem die Erinnerungen verletzten…

 

Na ja: Er war verbunden mit diesem Ort, da wegen dieser Legende, viele seiner Führungen so viel Erfolg hatten.

 

Er saß da und war etwas traurig, dass er jetzt alleine war.

 

„Oh, ich kenne Sie ja.“

 

Er erschrak und drehte sich um.

 

Eine hübsche, junge Frau stand hinter ihm, die ihn anlächelte. Er schaute die junge Frau erstaunt an, wahrscheinlich zusätzlich dümmlich, denn er erkannte sie nicht.

 

„Vor Jahren war ich hier“, sprach die junge Frau, „und Sie erzählten uns die Legende vom Ort, an dem die Erinnerungen verletzen. Es war für mich sehr wichtig, weil von diesem Tag an mein Vater anders mit mir war.“

 

Die junge Frau forschte in den Augen des Tourismusführers und sagte: „Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern?“

 

Dann setzte sie sich auf den Stein neben ihm und beide schauten diesen Felsen, diesen Ort, an dem die Erinnerungen verletzten, an.

 

Die junge Frau sagte: „Dieser Ort hat mein Leben verändert. Er hat mich vor vielen Verletzungen verschont. Ich habe meinen Vater nach Ihrer Führung nicht mehr wiedererkannt.“

 

Der Touristenführer schaute immer noch erstaunt.

 

Die junge Frau lächelte als sie sein Gesicht sah und bemerkte: „Es macht nichts, wenn Sie nicht daran glauben. Ich, ich möchte jetzt zum Felsen hoch gehen. Meine Erinnerungen sind mir auch wichtig, nur sie verletzen nicht.“

 

 

Die Verbundenheit am Ort, an dem die Erinnerungen verletzen

 

Es war einige Zeit vergangen und am Fuße des Felsen standen immer noch die vier bescheidenen Hütten.

 

Das Leben hatte sich eingespielt: Frau Beatus und Michael arbeiteten den ganzen Tag.

 

Georg und Gabriel hatten ihre Pausenkultur entwickelt und sahen das immer noch als normal an.

 

Viel wichtiger war jedoch: Die Kräuter hatten sehr große Heilkraft entwickelt.

 

Georg hatte mit der Zeit seine Fähigkeit, die Kräuter zu riechen, so ausgebaut, dass er sie an ihrem Geruch entwickeln konnte. Frau Beatus selbst war manchmal bass erstaunt.

 

Gabriel, der bekannterweise einen Blick für die Kräuter hatte und diese mit seinen Händen spürte, war ein Meister der Wahrnehmung und des Fühlens der Kräuter geworden. Auch hier staunten Frau Beatus und Michael öfters.

 

Eines Abends hatte sogar Michael Frau Beatus raunen hören: „Michael, der kann es besser als wir. Ich weiß nur noch nicht, ob er das aushält.“

 

Es gab weiterhin die Tage, wo manchmal gemeinsam, manchmal alleine, alle drei, Frau Beatus, Georg und Gabriel, den schwierigen Weg zum Ort oben am Felsen, an dem die Erinnerungen verletzen, gingen.

 

Die Kräuterbetten war jedesmal gerichtet und es war spürbar, dass nach jedem dieser beschwerlichen Wege die Kräuter mehr Heilkraft erlangten. Dieser beschwerliche Weg führte zu erstaunlichen Entwicklungen: Georg roch immer mehr die spezifischen Gerüche der Kräuter.

 

Gabriel spürte mit seinen Händen, wenn er über die Kräuter strich - eher streichelte - immer mehr die tiefe Bedeutung dieser Kräuter und man sah ihm das von Weitem an.

 

Beide fragten Frau Beatus oft um diesen Zusammenhang.

 

In diesen Momenten wirkte Frau Beatus traurig und hilflos zugleich.

 

„Ich weiß es nicht …“, sprach sie dann, und wenn ich es wüsste, würde ich es nicht sagen. „Nur so weit: Je tiefer und besser wir unsere Erinnerungen kennen - und vor allem diese, die verletzen - desto eher erkennen wir die Heilkraft der Kräuter.

 

Georg wollte sofort wissen: „Aber warum dann dieser Ort? Geht es nicht ohne. Diese Verletzungen tun weh.“

 

Frau Beatus sagte dann: „Georg hast Du je schon diese Kräuter so gerochen in Deinem Leben?“

 

Georg schaute dann immer in die Ferne und sagte: „Nein, Frau Beatus.“

 

Frau Beatus bemerkte: „Was lässt Dich dann fragen, Georg? Du weißt es doch.“

 

Georg sah dann immer unzufrieden aus und ging meistens nach solchen Gesprächen alleine in den Wald.

 

So ging Tag für Tag das Leben in dem Wald hin.

 

Georg und Gabriel, die immer noch viel Pause machten, hatten mittlerweile einen regelmäßigen Marktstand. Die Kräuter hatten auch in der Stadt wieder einen Ruf und es kamen, wie damals, als Frau Beatus und Michael noch in der Stadt waren, viele Menschen von weit her, nur um diese Kräuter zu kaufen.

 

Georg und Gabriel genossen diese Stadtaufenthalte und diese wurden auch rechts und links vom Marktstand immer länger.

 

Die beiden Alten, Frau Beatus und Michael, sagten dazu nichts mehr. Manchmal hoben sie ihre Augenbrauen, manchmal waren sie bei der Rückkehr von Georg und Gabriel in ihren Hütten.

 

Manchmal sah es so aus, wenn die beiden zurück kamen, als würden sie deren Pausenfähigkeit für sich selbst genießen.

 

 

Die Alten lernen

 

Es war früh an einem Donnerstagmorgen: Markttag.

 

Georg und Gabriel waren, wie immer, am Mittwochabend gestartet, so dass sie den Marktstand direkt früh bedienen konnten. Der Marktstand war mittlerweile der Hauptanziehungspunkt des Marktes. Der Marktstand war direkt neben der Kirche und morgens früh schon gab es lange Schlangen.

 

An jenem Donnerstagmorgen - Michael kam gerade aus dem Wald zurück mit Kräutern - fand er einen Zettel an seiner Hüttentür: „Michael, ich bin bis morgen weg. Mache Dir keine Sorgen. Beatus.“

 

Michael machte sich Sorgen.

 

Meistens war Frau Beatus am Ort, an dem die Erinnerungen verletzen und bekannterweise mochte er diesen Ort nicht und vermied ihn.

 

Er schaute grimmig und Frau Beatus tat ihm leid.

 

Er machte, was er dann immer machte: Er bereitete ein Kräuterbett vor, auf das sie sich legen konnte, wenn sie wieder kam.

 

Ansonsten brummte er grimmig in den Wald hinein.

 

Doch dieses mal kam es anders.

 

Am nächsten Morgen - Michael war gerade aufgestanden - und die Morgenröte erhellte schon den Wald. Frau Beatus kam zurück, ihr Gesicht war strahlend und ruhig.

 

Frau Beatus sagte: „Michael, ich muss mit Dir reden.“

 

Michael machte so etwas wie ein erstauntes Gesicht.

 

„Gehen wir ein wenig in den Wald spazieren.“

 

Jetzt wurde es Michael dann definitiv bange, da Frau Beatus und er nie in den Wald spazieren gingen, sondern sie arbeiteten im Wald und suchten nach heilsamen Kräutern oder sie arbeiteten im kleinen Atelier, in dem sie Salben und andere Pasten vorbereiteten.

 

Michael fragte: „Was willst Du?“

 

Frau Beatus hakte ihn unter. Dabei musste sie ihren Arm ordentlich heben, da Michael sehr viel größer war, und sie sagte: „Komm!“

 

Ihr Gesicht strahlte.

 

„Michael, ich war in der Stadt.“

 

Michael zuckte zusammen und sah sie fassungslos an.

 

„Zu diesem Pack. Die haben uns vertrieben. Hier haben wir doch unseren Frieden. Was willst Du da? Willst Du wieder alles verderben? Lass es doch!“

 

Frau Beatus schaute traurig und sagte: „Ja, Michael, Du hast recht. Die Gefahren sind die gleichen geblieben. Ich habe mich ja nicht zu erkennen gegeben, ich war sehr vorsichtig.“

 

Michael: „Was hast Du dann da gemacht?“

 

„Ich habe Gabriel und Georg beobachtet. Und…, Michael, es war wunderschön.“

 

„Mmmh“, brummte Michael und dachte: „Ich muss mir das wohl jetzt anhören.“

 

Michael sagte: „Sprich!“

 

Und Frau Beatus sprudelte los.

 

Sie erzählte von den beiden jungen Menschen, die so eins waren mit den Kräutern. Sie verkauften einfach die richtigen Kräuter an die richtigen Menschen: Georg mit seiner Fähigkeit zu riechen und Gabriel mit seiner Fähigkeit zu sehen und zu streicheln. Sie erzählte auch, dass wenn Troubadoure auf dem Platz zum Tanz aufspielten, beide voller Leben mittanzten.

 

„Und, Michael“, flüsterte Frau Beatus, „alle tanzten mit. Und, Michael, nach dem Markt sind sie beide in eine Schenke. Zwar in eine getrennte, deshalb hatte ich Georg kurz aus den Augen verloren. Ich habe ihn aber wieder gefunden. Und, wenn Du diese jungen Menschen gesehen hättest, wie glücklich und zufrieden sie sind.“

 

Und Frau Beatus flüsterte: „Michael, ich war sogar kurz eifersüchtig.“

 

Nach diesem Redeschwall von Frau Beatus, und dieser war sehr selten, brummte Michael irgend etwas Unverständliches und dabei war sein Gesicht ungewohntermaßen freundlich.

 

Abends kamen Georg und Gabriel wieder. Sie hatten alle Kräuter verkauft, so dass der Handkarren komplett leer war. Sie stellten ihn, wie immer zum Atelier und als sie sich umdrehten, fiel beiden die Kinnlade runter.

 

Michael saß auf der Bank, die vor seiner Hütte stand.

 

Michael setzte sich nie hin. Bekannterweise hatte er Angst, dass er nicht mehr aufstehen kann. Er saß friedlich auf der Bank.

 

Georg sagte: „Michael.“ Und Gabriel in seiner Hilflosigkeit suchte schnell Frau Beatus auf: „Komm, komm, schau mal.“

 

Frau Beatus schaute und eine Träne rollte über ihre Wange.

 

 

Georg

 

So lief das Leben am Felsen, dem Ort, an dem Erinnerungen verletzen, hin.

 

Frau Beatus ging es richtig gut: Ein Teil ihrer Kraft war zurück, dank dieser jungen Leute, die ganz anders waren. Die schlimmen Erfahrungen, die sie in der Stadt erlebt hatte, waren durch diese weit, weit weg.

 

Manchmal zweifelte sie auch, ob sie sich, nachdem sie aus der Stadt getrieben wurde, geändert hatte.

 

Vielleicht war auch sie es, die sich zum Besten geändert hatte. Sie wusste es nicht und versuchte es einfach zu genießen.

 

Eines Tages kam Georg mit gesammelten Kräutern aus dem Wald.

 

Gabriel sah diese und streichelte sie und fragte: „Georg, was ist los?“

 

„Was soll schon los sein? Ich habe Kräuter gesammelt.“

 

„Georg, Deine Kräuter sind kraftlos.“

 

Georg antwortete unfreundlich: „Willst Du mich belehren?“

 

Gabriel, wir erinnern uns, kam als stolzer Jüngling auf dem Pferd und sagte nur noch: „Pfff“ und drehte sich um.

 

Georg ging ins Atelier, wollte dort die Kräuter ablegen und Frau Beatus runzelte die Stirn. „Georg, geht es Dir gut?“

 

„Jetzt fang’ Du auch noch an.“ Georg ging raus und wurde an diesem Tag nicht mehr gesehen.

 

Am anderen Morgen war Georg wieder da. Er war irgendwann in der Nacht wieder zurück gekommen, niemand wusste wann.

 

Alle standen vor dem Atelier.

 

„Georg, können wir etwas tun für Dich?“

 

Georg schaute verstört und sagte: „Nein, es ist auch nichts.“

 

Gabriel hob seine Augenbrauen und meinte: „Pfff“. Michael brummte unwirsch.

 

Frau Beatus meinte: „Georg, ich glaube Du solltest auf den Felsen. Du spürst die Kräuter zu wenig und Du weißt, das tut nicht gut.“

 

Gabriel öffnete den Mund und wollte etwas sagen.

 

Frau Beatus legte die Hand auf seinen Arm und Gabriel schloss den Mund wieder.

 

Michael brummte: „Sie hat Recht, Georg.“

 

Gabriel sagte: „Das musst gerade Du sagen. Du gehst doch nie hoch.“

 

An diesem Tag geschah dann noch etwas Neues.

 

Wie immer ging Georg in den Wald und sammelte Kräuter. Als er zurück kam, sahen es alle sofort mit einem Blick, - Michael war mit Frau Beatus im Kräutergarten und Gabriel machte eine Pause - dass mit den gesammelten Kräutern etwas nicht stimmte.

 

Georg hatte andere Pflanzen, andere Blätter und auch Wurzeln in die Kräuter gemischt.

 

Frau Beatus schaute aus dem Kräutergarten mit einem Gesicht zwischen Wut und Traurigkeit. Georg tat so, als wäre nichts geschehen und verrichtete die Vorbereitung seiner Kräuter vor dem Atelier, wie er es sonst jeden Tag tat.

 

Über dem ganzen Ort lag eine bleierne Stille.

 

In diese Stille hörte man Georg plötzlich schreien: „Ihr seid alle scheiße hier. Ihr denkt immer nur, dass Euer Weg der Richtige ist. Dieser blöde Felsen. Es muss doch auch anders gehen. Ich kann nicht mehr. Ich will Innovation, Neues. Ich habe keinen Bock mehr auf Verletzungen. Ich brauche Freiheit.“

 

Gabriel wollte zu einem klassischen „Pfff“ ansetzen, doch dieses blieb ihm im Halse stecken.

 

Frau Beatus wurde sehr traurig, ging zu Georg und streichelte ihm über die Wange.

 

„Georg“, sagte Frau Beatus.

 

Doch dieser schlug ihre Hand weg und drehte sich um.

 

Frau Beatus flüsterte noch einmal „Georg“.

 

Sie drehte sich um und jeder konnte sehen, dass sie den Weg, der zum Felsen führt, hochkletterte.

 

Georg hörte man den ganzen Tag schimpfen. Er machte nichts mehr mit.

 

Frau Beatus kam am Abend sehr verletzt vom Felsen zurück. Sie lehnte das Kräuterbett, das Michael und Gabriel vorbereitet hatten, ab und sagte: „Ich muss es spüren“ und sie hinkte schweren Fußes in ihren Kräutergarten.

 

An dem Abend sah man Michael mit dem Schwert vor Georgs Hütte stehen.

 

 

Das Wohlwollen

 

Die Nacht war turbulent für jeden.

 

Frau Beatus schlief vor Schmerzen nicht. Michael stand die ganze Nacht mit dem Schwert vor der Hütte.

 

Am anderen Morgen sah man Gabriel im Kräutergarten, Kräuter streicheln und Kräuter schauen. Er hatte einen Bastkorb dabei und zupfte die zartesten Kräuter im Kräutergarten ab.

 

Er ging zu Georgs Hütte und stellte den Bastkorb vor seine Hütte. Er klopfte leise und flüsterte: „Für Dich.“

 

Als Michael dies sah, brummte er leise und ging mit seinem Schwert weg.

 

Frau Beatus, die sich gerade beschwerlich aus ihrer Hütte schleppte, sah nun folgende Szene: Georg kam aus der Hütte und sie sah sein hartes Gesicht. Er ging weiter und trat auf den Bastkorb über die Kräuter hinweg. Man hörte den Korb ächzen.

 

Er ging gerade aus, ohne jemanden anzusehen und er war den ganzen Tag nicht mehr gesehen.

 

Gabriel zog sich in die Hütte zurück und Michael arbeitete den ganzen Tag wie gestört im Atelier.

 

Im Kräutergarten - nur Gabriel sah dies - änderten die Kräuter.

 

Frau Beatus ging am Abend zu Michael ins Atelier und Michael brummte: „Jetzt sind wir wieder da, wo wir schon einmal waren.“ Frau Beatus erwiderte: „Bist Du sicher, Michael?“

 

Sie bekam jedoch keine Antwort.

 

 

Die Erinnerungen entwickeln wieder ihre destruktive Kraft

 

Am anderen Morgen trat Frau Beatus aus ihrer Hütte und sie suchte nach Georg.

 

Georg war nicht da.

 

Der Korb vor der Hütte war verschwunden und Frau Beatus ging zur Hütte von Gabriel und klopfte leise an.

 

Gabriel saß in seiner Hütte und streichelte seine Feder am Hut.

 

Frau Beatus fragte: „Wo ist Dein Korb, Gabriel?“

 

Gabriel zeigte mit dem Kinn in eine Ecke der Hütte.

 

Frau Beatus entdeckte den Korb, der in kleine Stücke zerrissen war, gemischt mit den Kräutern, im Dreck liegend.

 

Frau Beatus sah dies und ging aus der Hütte.

 

Abends - Michael hatte sich mitten im Kräutergarten mit seinem Schwert aufgestellt - ging Frau Beatus zu Michael.

 

Michael brummte: „Es hat alles nichts gedient. Es ist wie immer: Pack bleibt Pack und Du wirst sehen, der Andere wird uns auch wieder weh tun.“

 

Frau Beatus, die vor Schmerzen gekrümmt dastand, sagte: „Ja, Michael, vielleicht hast Du Recht.“

 

Michael sagte: „Und Du warst wieder beim Felsen?“

 

„Ja,“, sagte Frau Beatus und, „Michael, hätten wir es mit den beiden jungen Menschen wie immer gemacht, würde es uns heute so gut gehen?“

 

Als Antwort drückte Michael vor Hilflosigkeit das Schwert etwas tiefer in die Erde und Frau Beatus flüsterte: „Michael, die Erinnerungen bekommen wieder so viel Kraft, dass sie uns beherrschen. Das ist nicht gut.“

 

Michael brummte: „Ich weiß.“

 

Frau Beatus nahm zwei Zweige Kräuter - ihre Besten - ging zu der Hütte von Gabriel und klopfte an. Frau Beatus hielt Gabriel die beiden Kräuterzweige hin, als er öffnete und sagte: „Ich … ich, würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Du bleibst, Gabriel. Ich weiß, Dein altes Leben ruft gerade und es gibt Momente, wo Du Dir sagst ‚Wäre ich doch nie da weg.‘ Ich kämpfe gerade auch mit meiner Verletzung, mit meinem Verlassen werden, mit verraten zu werden.“

 

Sie wollte aus der Hütte gehen, doch es hielt sie etwas zurück und sie drehte sich um.

 

Wie in die Leere sprach sie: „Ich werde meinen Erinnerungen nicht die Kraft geben. Ich werde nicht in meine alte grausame Welt zurück kehren.“

 

Und Gabriel sah, wie Frau Beatus gebückt und hinkend in den Kräutergarten ging.

 

Michael sah sie das Schwert wegnehmen und es an seine Hütte lehnen.

 

Michael und Frau Beatus schauten sich an und nickten sich zu.

 

 

Der Bote

 

Tage und Wochen vergingen.

 

Der Alltag hatte wieder begonnen und Gabriel hatte kaum Zeit für Pausen.

 

Frau Beatus machte sich Sorgen.

 

Jedoch eine verletzende Stille lag über dem ganzen Ort.

 

Frau Beatus ging jeden Tag zum Felsen hoch.

 

Eines Tages hörte man in der Morgenröte den Galopp eines Pferdes.

 

Michael trat aus der Hütte und nahm sofort sein Schwert.

 

Ein hochgewachsener Mann, der fein angezogen war, ritt gerade auf den Platz vor den Hütten und fragte: „Ihr kennt Georg?“

 

Michael wollte gerade ansetzen nein zu sagen, aber Frau Beatus und Gabriel sagten: „Ja.“

 

„Ich soll Euch von Georg sagen, dass er nicht mehr kommt.“

 

Der Bote setzte an zurück zu reiten und Frau Beatus ächzte verletzt: „Gibt es keine weiteren Nachrichten von Georg?“

 

Der Bote drehte sich noch einmal um und sagte: „Nein“, und ritt davon.

 

Man sah Frau Beatus an diesem Tag nicht mehr. Jeder vermutete sie auf dem Felsen.

 

Als sie wieder gesehen war, ging Gabriel den beschwerlichen Weg ebenfalls.

 

Michael stand mit dem Schwert vor der Hütte.

 

Es war ein grausamer Tag. Für alle in dem Wald.

 

Und für Georg sicherlich auch.

 

 

Wenn die Erinnerungen an Kraft verlieren und dann Veränderungen möglich machen

 

Nachdem dies nun alles passiert war, fiel für die Menschen am Felsen am Donnerstag der Marktstand aus.

 

Alle liefen verwirrt und durcheinander umher.

 

Gabriel streichelte immer mal wieder seine Feder.

 

Michael wurde immer mal wieder in der Nacht mit seinem Schwert gesehen.

 

Frau Beatus ging oft, viel zu oft, zu dem Felsen, an den Ort, wo Erinnerungen verletzen.

 

Am Markttag, der ausfiel, fing die Kräuterfee in einer Ecke des Kräutergartens an - die beste Ecke - eine Mulde auszuheben. Mit dem Spaten hob sie die Erde behutsam aus.

 

Gabriel beobachtete dies von Weitem. Er hatte ein skeptisches Gesicht.

 

Die Fee nahm den Handkarren und ging in den Wald. Sie kam wieder und im Handkarren lag feinste Erde.

 

Gabriel ging zum Handkarren, schaute sich die Erde an und fühlte sie mit seinen Händen.

 

Entsetzt schaute er Frau Beatus an und sagte: „Du wirst doch nicht …?“

 

Frau Beatus schaute zu Boden und sagte: „Doch, ich möchte nicht in meine alte Welt zurück.“

 

Gabriel war sauer und sagte: „Ungerecht, nur ungerecht.“

 

Michael nahm Frau Beatus den Handkarren ab und schob ihn in die Mulde.

 

Er verstand es nicht, aber er half.

 

Die Erde wurde sehr behutsam in die Mulde gelegt und so entstand eine Fläche einen Meter auf einen Meter groß.

 

Frau Beatus sagte: „Wir lassen die Erde jetzt bis morgen ruhen.“

 

Gabriel sah von Weitem zu.

 

Am anderen Morgen stand Frau Beatus sehr früh auf.

 

Sie war bass erstaunt. Gabriel kam bereits aus dem Wald zurück und der Morgen hatte gerade begonnen. Michael kam soeben aus seiner Hütte, der es gewohnt war als Allererster aufzustehen und brummte: „Nicht einmal am Morgen hat man seine Ruhe.“

 

Frau Beatus schaute auf Gabriel. Gabriel hatte in einem neuen Bastkorb Kräuterpflanzen, offensichtlich im Wald, gesammelt.

 

Frau Beatus ging zu Gabriel.

 

Beide schauten sich - traurig - an.

 

„Sag’ nur“, erstaunte sich Frau Beatus, „Du hast verstanden, was ich mache?“

 

Gabriel sagte nur: „Es sind die Besten, die ich sah und fühlte.“

 

Frau Beatus setzte den Korb auf die Erde und fasste Gabriel an beiden Händen: „Gabriel, wenn Du wüsstest, wie gescheit Du bist.“

 

Man sah die drei an dem Fleckchen mit der neuen Erde die Kräuter pflanzen, die Gabriel aus dem Wald mitbrachte.

 

Michael ging in das Atelier und kam mit einem Schild zurück. Er hatte einen Hammer dabei und rammte das Schild vor diesen neuen, kleinen Kräutergarten in den Boden.

 

Alle blieben eine Weile stehen.

 

Und dann ging das Leben weiter an diesem Ort, wo die Erinnerungen - Gott sei Dank - verletzen, weiter.

 

 

Der Ort der Erinnerungen ist da für die Menschen, die die Verletzungen nicht aushalten

 

Am Tag darauf saß Frau Beatus - komplett entgegen ihrer Arbeitsgewöhnungen - auf der Bank.

 

Am Nachmittag ging Gabriel hin und setzte sich zu ihr.

 

„Du denkst an Georg?“, fragte er leise.

 

Frau Beatus sagte: „Ja. Ich mache einen Platz in meinem Herzen.“

 

Auf dem Schild im kleinen neuen Kräutergarten stand:

„Georg, hier bist Du jederzeit willkommen und Zuhause.“

 

 

Der Touristenführer und die junge Frau

 

Der Touristenführer wartete.

 

Nach einer Weile kam die junge Frau zurück und sie sagte zu ihm:

„Gehen Sie doch hoch. Ich rede von meinen Erinnerungen. Gott sei Dank, damals spürte mein Vater, was es bedeutet, von Erinnerungen verletzt zu werden. Meine Erinnerungen sind mir heilig und verletzten mich, doch ich spüre sie besonders stark auf diesem Felsen.“

 

Der Touristenführer spürte, dass die Frau wahrhaftig war.

 

Er saß noch lange da.

 

 

 

 

Für meine Kirmesfrau, die uns verließ.

 

 

 

 

Die Baronin und der alten Schatulle in tiefer Verbundenheit.

 

 

 

jd

 

 

Weihnachten 2021

 

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