2020: Der Ort an dem Erinnerungen verletzen

 

Von den Narben des Lebens und vom Zauber des Neuanfangs

 

 

Es waren noch keine Corona-Zeiten.

 

Der Touristenführer aus dem kleinen mittelalterlichen Städtchen war gerade am alten Wald mit seiner Touristengruppe, die fröhlich plapperte, angekommen.

 

Einer der Touristen sagte: „Ah, hier ist also dieser sagenumwobene Wald.“ Die Gruppe wurde still und sie schauten alle den Touristenführer an. Der Touristenführer stellte sich zur Seite, so dass sie auf den Wald sehen konnten. Alte Eichen, deren Laub leicht im Wind tanzte, viel Untergehölz und etwas weiter hinten im Wald sah man einen Felsen stehen, der mit Moos, Efeu und Farnen behangen war.

 

Der Touristenführer wartete eine Weile auf die Stille, bis man nur noch den Wind mit den Blättern spielen hörte. Er genoss diesen Moment. Ob man wollte oder nicht, wenn man in diesen Wald schaute, gab es immer die gleiche Reaktion: Die Menschen wurden still, schauten gebannt auf den Wald, so als würden gleich Elfen oder Kobolde aus dem Wald hüpfen und er mochte diesen Effekt. Es war ja auch sein Metier.

 

Ein kleines Mädchen, das in dieser Gruppe mit dabei war, kommentierte diesen Moment der Stille: „Papa, Papa, auf dem Felsen: Da ist der Ort an dem die Erinnerungen verletzen.“

 

Papa sagte nichts. Die Gruppe wurde noch stiller und alle Blicke schauten wieder auf den Touristenführer.

 

Er atmete durch und die Spannung in der Gruppe war jetzt deutlich spürbarer. Er räusperte sich noch einmal und auf das Mädchen schauend sagte er: „Und, möchtest Du die Geschichte dazu hören?“ Das kleine Mädchen nickte und wartete gespannt auf das, was der Touristenführer jetzt wohl erzählen möchte.

 

 

Der Kräuterhandel

 

Es war vor langer, langer Zeit und das mittelalterliche Städtchen, eben neben diesem Wald, war in voller Blüte. Überall gab es Baustellen. Die Pfarrkirche war im modernsten, damals noch nicht so benannten, gotischen Stil gebaut. In der ganzen Stadt wurden in jedem Straßenzug Häuser mit großen Buntsandsteinbögen und Händlerschoppen gebaut.

 

Den Leuten im Städtchen ging es gut.

 

In einer Seitengasse hatte sich seit langen Jahren eine stolze Frau, die Beatus hieß, mit einem Kräuterhandel niedergelassen. Der Laden, der voller Kräuter, Salben und anderen Elixieren vollgestopft war, war immer voller Leute. Jede und jeder aus der Stadt, aber auch viele Menschen von weiter und von weit her, kauften bei Frau Beatus ein, was sie an Kräuter, Salben und andere Flüssigkeiten für notwendig hielten.

Links vom Laden gab es einen großen Torbogen, wie es in dieser Stadt üblich war. Wenn man durch diesen Eingang hindurch ging, traf man hinter dem Haus auf einen riesigen Kräutergarten: Kräutergärten von dieser Größe hatten damals nicht einmal die großen Klöster.

 

In diesem Garten arbeiteten tüchtige Kräuterspezialisten, die an der hinteren Mauer, leicht rechts, die Kräuter in einem Atelier aufbereiteten.

 

Jeder nannte Frau Beatus die Kräuterfee. Alle kannten sie, jedoch niemand wusste, wo sie herkam.

 

Die Kräuterfee arbeitete den ganzen Tag. Mal hinten im Kräuteratelier, mal inspizierte sie die Pflanzen im großen Garten und man sah sie oft mit diesen reden. Man fand sie auch im Laden, aber eher selten, denn im Laden herrschte Michael. Doch dazu später mehr.

 

Die Kräuterfee verbrachte auch viel Zeit im Wald und kam dann mit allerlei Grünem wieder, das sie dann sofort hinten ins Atelier trug.

 

Frau Beatus gehörte „in der Stadt dazu“: Zu ihren Kunden gehörte der Bürgermeister, der Prälat und einmal im Jahr kam sogar der Bischof.

 

Frau Beatus wurde regelmäßig zu den Festen der Wichtigen dieser Stadt, zu den reichen Bürgern, aber auch zu jeder Gelegenheit in den größeren Städten in der Region eingeladen.

 

Die Kräuterfee gehörte einfach dazu.

 

Und nun zu Michael:

 

Michael herrschte vorne im Laden. Michael war ein großer, hagerer Mann mit eingefallenen Augen, leicht gebückt, der den Verkauf machte.

 

Er war auch der Hausbedienstete, unterhielt das Haus, machte den Haushalt und lebte so mit Frau Beatus zusammen. Er hatte hinten, direkt neben dem Kräuteratelier, eine kleine Hütte in der er lebte. Man sah ihn dort jedoch selten, weil er genug Arbeit hatte.

 

Michael war mürrisch. Er bediente die Kunden, die die Kräuter kauften: Diese haben jedoch immer erzählt, dass er brummend und mürrisch war.

 

Auf jeden Fall war er nicht freundlich.

 

Allerdings kannte er sich gut aus: Er hatte schon immer die Kunden bedient, so dass er ihre Bedürfnisse kannte.

 

Die Kunden bekamen auch immer alles, was sie brauchten, aber er vermittelte ihnen immer den Eindruck: „Du störst!“

 

Die Kunden fragten oft diese nette Frau Beatus, was denn mit Michael wäre:

„Warum lassen Sie diesen in den Laden?“

 

Manche beschwerten sich, dass er nicht freundlich ist. Sie fanden auch, er passt nicht in den Laden. Aber, die Kräuterfee schaute sie nur an und sagte: „Aber das ist doch Michael. Der gehört zu den Kräutern und zu mir.“ Mehr konnte man von der Kräuterfee nicht erfahren.

 

Also nahm man Michael in Kauf, da die Kräuter in einer wunderbaren Qualität dort zu haben waren.

 

Die ganze Gegend und weit darüber hinaus wurden diese Kräuter gebraucht:

Zum heilen, zum schön werden, zum Kinder bekommen und was noch alles, irgendwann waren sie zu allem gut.

 

Diese Gerüchteküche war nicht mehr zu stoppen und so kamen bald auch aus ferneren Teilen des Landes Unbekannte, die bei der Kräuterfee bzw. bei Michael einkauften.

 

Die Arbeit wurde immer mehr, so dass die Helferinnen und Helfer sehr viel arbeiten mussten. Manche von denen waren talentiert und konnten die Kräuter und die Salben gut aufbereiten, manche scheiterten daran und natürlich blieb an den Guten die Arbeit hängen. Die Kräuterfee und Michael arbeiteten irgendwann Tag und Nacht, damit sie die vielen Hoffnungen, die die Leute in die Kräuter und Salben legten, auch zumindest im Ansatz erfüllen konnten.

 

 

Viel Licht zieht viel Dunkles an

 

Der Erfolg machte auch schon damals, so wie auch heute noch, neidisch.

 

Die ersten Bediensteten verließen dann bald, als sich der richtige Erfolg einstellte, Frau Beatus und den Michael und machten manchmal im Dorf nebenan, manchmal weiter weg, einen Kräuterladen auf. Michael hielt das kaum aus. Frau Beatus erwiderte: „Michael, ist doch gut.“

 

Frau Beatus half sogar manchen die gingen, obwohl sie auch sehr traurig war.

 

Michael konnte dies kaum mitansehen und es war gut, dass er im Laden für sich brummte und nicht einverstanden war. Es war gut, dass er sich so zurückzog.

 

Manch andere verließen über Nacht die Kräuterfee, weil sie es nicht schafften, weil sie nicht talentiert waren und die Kräuterfee war sehr traurig. Sie hörte Michael oft sagen: „Jetzt hör’ doch auf, lass Dir das Herz nicht brechen. Lass doch das Pack ziehen, lass doch das Pack ziehen. Hör doch auf. Wir können sowieso nichts ändern. Die sind doch Deiner Kräuterkunst nicht gewachsen.“

 

Frau Beatus leidete still, da sie alle, die bei ihr arbeiteten sehr mochte und liebte. Sie empfand diese vielen Verluste als sehr schmerzlich. Man sah Michael sich rührend um Frau Beatus kümmern. Er trug ihr oft die Kräuter als sie aus dem Wald kam und er nahm ihr, was ging, ab. Frau Beatus sah man öfters etwas langsamer durch ihren Kräutergarten gehen und etwas gebückter aus dem Wald kommen. Manche flüsterten schon, dass ihre Kräuter schlechter geworden waren.

 

Dann passierte das, was passieren musste. Die letzten beiden, die ihr halfen, verschwanden über Nacht und sie räumten sowohl hinten das Atelier, wie vorne den Verkaufsraum aus, stahlen viele Kräuterpflanzen des Gartens und waren nicht mehr gesehen.

 

An dem Morgen sah man Frau Beatus im Kräutergarten sitzen und laut jammern und heulen. Sogar Michael brummte und zeterte nicht, sondern lief einfach wie gestört im Kräutergarten umher und zupfte Unkraut. Auch bei ihm sah man eine Träne fallen, die sich mit dem Morgentau auf den Kräutern verband.

 

Es dauerte nicht lange, da kamen Nachrichten von den Bediensteten. Sie erzählten Schlechtes über Frau Beatus und Michael, dass die Kräuter noch nie etwas taugten und dass sie jetzt diejenigen sind, die die ganze Tradition übernehmen usw., usw.

 

Da ein Unheil nie alleine kommt, fingen die Eifersüchtigen der Stadt und ehemaligen Kunden an nachzutreten. Sie sprachen nicht von der Kräuterfee, sondern von der Kräuterhexe.

 

Sie benachrichtigten die sogenannten Gotteskämpfer, die damals durch die Lande zogen mit dem Auftrag - sie behaupteten dieser stamme von Gott - die Hexen ausfindig zu machen und zu verbrennen.

 

Manch alter Kunde kam zu Frau Beatus und warnte sie. Der Bürgermeister des kleinen Städtchens ging zu ihr hin und sagte: „Frau Beatus gehen Sie. Gehen Sie schnell, damit Sie noch gehen können.“

 

Und so sah man eines morgens ein kleines Weib mit diesem großen hageren Mann, der jetzt eine Kappe anhatte und ein schweres Schwert trug, durch die Tore der Stadt ziehen, und sie waren nicht mehr gesehen.

 

Manche in dem kleinen Städtchen erzählten, dass Michael furchterregend aussah, und dass er brummte: „Nie mehr, nie mehr dieses Pack.“

 

 

Viele Winter und viele Sommer später

 

Viele Jahre gingen ins Land. Vieles änderte sich. Viele starben an Pest. Die Hexenverbrenner waren stiller und weniger geworden. Es war eine neue Zeit und sie wird heute Renaissance genannt.

 

Die jungen Leute lebten anders: freier. Vieles wurde neu erfunden und den Menschen ging es gut: Die Wiedergeburt von viel Gutem war in dieser deutlich geschrumpften Gesellschaft modern und angesagt.

 

Diese junge Generation war das Feiern, das Festen, den Genuss und auch diese Freiheit gewöhnt. Sie kannten nichts mehr anderes. Sie nahmen für sich in Anspruch, dass diese neue Welt die ihrige war: Und damit basta.

 

Die Alten, die in der dunklen Zeit übrig geblieben waren, hatte man aufs Altenteil geschickt.

 

Diese Jungen wollten von dieser dunklen Welt eigentlich gar nichts mehr wissen.

 

Sie waren geschichtsvergessen.

 

In unserem kleinen Städtchen ging ein früherer Bediensteter des ehemaligen Bürgermeisters, der sehr alt geworden war, regelmäßig und doch sehr schleppend spazieren.

 

Eines Tages kam er ganz aufgeregt wieder und ging in das Haus des alten Bürgermeisters, der bettlägerig war. Er stand vor seinem alten Bürgermeister und seine Lippen bewegten sich, aber er bekam kein Wort heraus.

 

Der Bürgermeister sagte: „Rede doch, rede doch. Was ist denn los? Was ist denn los?“ Der Bedienstete krächzte heraus: „Sie sind wieder da.“ Der Bürgermeister schaute ihn an. In seinem Gesicht war einerseits Panik und andererseits ein lebendiges Leuchten in seinen Augen zu sehen.

 

„Erzähle!“, sagte er.

 

„Ich war im Wald und unten am Felsen sah ich eine Hütte, die bisher nicht da war. Die Hütte ist sehr schäbig und einfach gebaut und in zwei Teilen aufgeteilt. Ich bin vorbei gegangen und schleppte mich ein Stück weiter. Plötzlich stand er da, der große Hagere, der Michael. Er ist noch mürrischer geworden. Er schaute mich an und ich habe sofort bemerkt, dass er mich erkannte. Er ging in die Hütte und er kam mit diesem großen Schwert, das Gleiche, mit dem er damals wegging, wieder aus der Hütte.

 

Dann sah ich sie direkt daneben in der Tür sitzend und sie schaute mich traurig an. Ich bin, so schnell ich noch kann, weggelaufen. Bürgermeister, Bürgermeister, sie sind wieder da. Das bringt Unheil.“

 

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf und sagte zweifelnd: „Das kann gar nicht sein. Die sind schon lange tot. Du irrst Dich. Die sind jetzt viel zu alt. Schau, wir beide, wir waren damals jung, als sie gingen und da waren sie schon sehr alt. Es kann gar nicht sein, was Du gesehen hast. Hör auf zu trinken.“

 

 

Im Wald, am Felsen

 

Der Karren, der von zwei alten Pferden gezogen wurde, hielt vor der Hütte am Felsen.

 

Ein großer hagerer Schatten stand, mit beiden Händen auf ein großes Schwert gestützt, vor der Hütte. Um die Hütte herum wuchsen Kräuter und gerade kam ein altes Hutzelweibchen aus dem Wald.

 

Der Bürgermeister, der voller Schmerz im Karren saß - er hatte sich nach dem Bericht seines ehemaligen Bediensteten doch zu der Hütte am Felsen fahren lassen - wusste es sofort: Sie waren es.

 

Er stammelte: „Mi, Mi, Michael.“

 

Michael hob das Schwert und sagte: „Fort mit Dir, fort.“

 

Der Bürgermeister sagte: „Ja, ich gehe sofort. Könntest Du mir Kräuter geben gegen meine Schmerzen?“

 

Als Antwort kam das Schwert nur näher an sein Gesicht.

 

Der Bürgermeister zuckte, doch dann erschien diese uralte Frau, die sich am Arm von Michael abstützte und reichte ihm die Kräuter, die er sofort erkannte.

 

Er schaute beide noch einmal traurig an und er wies an, sofort in die Stadt zurück gefahren zu werden.

 

Michael flüsterte: „Das sind doch unsere Feinde. Du bist ihnen doch nichts schuldig.“ Frau Beatus schaute Michael an und sagte: „Michael, danke, dass Du da bist.“ Michael brummte: „Lass es ab jetzt. Die kommen sonst alle.“ Frau Beatus hinkte in ihre Hütte und sagte dazu nichts.

 

Man sah Michael nächtelang vor den beiden Hütten Wache halten. Man hörte ihn brummen: „Es ist ein schlechter Ort hier. Ich gehe nicht auf diesen Felsen. Wir sollten hier weg.“ Manchmal kam dann, wenn er dies immer wieder sagte, Frau Beatus aus der Hütte, legte ihren Arm auf seine Hände, die das Schwert hielten und sagte: „Michael, hier wachsen sie doch, unsere Kräuter. Du weißt, dass dies ein wundersamer Ort ist.“ Michael sagte nur: „Da gehe ich nie hin. Auf diesen Felsen gehe ich nie.“

 

Der wundersame Tag

 

Am Tag darauf geschah Wundersames.

 

Früh morgens kam ein Jüngling auf dem Weg zur Hütte vorbei. Er war prunkvoll angezogen. Er wollte offensichtlich hüpfend und pfeifend weitergehen, da sah er plötzlich die Kräuter um die Hütte herum.

 

Er rümpfte seine Nase und blieb dann stehen. Er hielt seinen Kopf etwas schief und fragte mit großen Augen in den Wald hinein: „Was ist das hier?“

 

Knapp hatte er es ausgesprochen, sah er Michael aus der Hütte kommen.

 

In der Hütte daneben raschelte auch etwas und Frau Beatus schleppte sich unter den freien Himmel. Der Jüngling war freundlich, lächelte und fragte: „Was riecht hier so? Das tut mir gut!“ Frau Beatus lächelte erstaunt. Michael schaute skeptisch. Frau Beatus sagte: „Geh’ Deiner Wege Jüngling. Wir gehören nicht in Deine Welt. Du bist aus der neuen Welt. Lass uns.“

 

Doch knapp hatte sie es ausgesprochen, hieb Michael das Schwert in den Boden und ging auf den Jüngling zu. Er brummte: „Was hast Du gerochen?“ „Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht“, sagte der Jüngling. „Etwas Gutes, etwas, was mir gut tut. Ich weiß es ja nicht.“ Michael schaute auf die Kräuterfee.

 

Die Kräuterfee schaute Michael an. Michael fragte: „Woher weißt Du, dass Dir dieser Geruch gut tut?“ Der Jüngling sagte: „Ich weiß es nicht, aber es ist so. Darf ich hierbleiben, bei Euch, damit ich das lerne, was hier passiert?“

 

Michael und die Kräuterfee atmeten ein, formten die Lippen um ein Nein zu sagen. Doch erstaunlicherweise sagten beide: „Ja!“

 

Michael brummte, schüttelte den Kopf, nahm die Axt und ging in den Wald, um eine neue Hütte zu bauen.

 

Michael und Georg waren dabei die neue Hütte zu bauen. Der Jüngling hieß Georg und hatte bereits vier Pausen gemacht. Michael wunderte sich über sich selbst, dass er weiter arbeitete, und dass ihn nichts störte. Frau Beatus hatte sogar gelächelt. Auch sie kannte Pausen nicht.

 

Frau Beatus machte sich gerade auf den Weg in den Wald zu gehen, um die bekannten Kräuter zu sammeln. Durch das Gebüsch kam ein stolzer Reiter auf einem eleganten Pferd. Er hatte eine lange Fasanenfeder an seinem Hut und Frau Beatus erschrak.

 

Der junge Mann, der aussah wie ein Prinz, sprang elegant vom Pferd, federte sich ab und schaute die Szene an: Ein altes Hutzelweibchen, ein großer hagerer, dunkler Mann, der offensichtlich an einer weiteren Hütte baute und seine Augen schweiften über die Kräuter. Er hielt inne, ging zu den Kräutern und streichelte sie, schaute sie an und streichelte sie wieder.

 

Michael drehte sich um und sah dieses Streicheln. Frau Beatus hatte sich ebenfalls umgedreht, nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatte und schaute Michael an.

 

Es wurde still und der Jüngling stand auf und sagte: „Ich heiße Gabriel und ich musste aus meinem Land fort. Ich suche ein neues Land und bin auf der Reise. Ich habe noch nie Kräuter gesehen, die sich beim Streicheln so anfühlen. Wenn ich diese Kräuter anschaue, so reagiert etwas in mir sehr wundersam.“

 

Michael wollte etwas sagen. Er hatte schon die Axt weggelegt. Frau Beatus hob die Hand. Michael blieb stehen. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er verunsichert war.

 

Frau Beatus fragte: „Was willst Du hier?“ „Nur durchreisen“, sagte Gabriel, „und könnte ich einige Nächte bei Euch bleiben? Eure Kräuter faszinieren mich.“ Frau Beatus sagte: „Ja eigentlich …“ „Bitte“, sagte Gabriel, „bitte. Ich möchte hier einfach nur ein paar mal übernachten.“ „Wieso weißt Du etwas über unsere Kräuter?“ fragte Frau Beatus. „Ich weiß nichts über Eure Kräuter“, wehrte sich Gabriel, „sie faszinieren mich.“ „Hm“ brummte Michael.

 

Zu diesem Zeitpunkt kam Georg hinter der neuen Hütte mit einem müden Gesicht hervor. Offensichtlich hatte er seine Pause beendet. Gabriel erhob sich und schaute Georg an. Georg sah Gabriel an. Die Szene fror ein und ein leicht kalter Wind bewegte die Blätter.

 

Frau Beatus fragte: „Kennt Ihr Euch?“

 

Georg sagte: „Ja, ja, aber wir haben nichts miteinander zu tun.“

 

Gabriel sagte: „Ja, aus einer früheren Welt.“

 

„Hm“, sagte Frau Beatus: „Aus einer früheren Welt? Ihr seid doch noch so jung und Ihr gehört doch beide zu dieser neuen Welt, die gerade entsteht.“

 

Georg und Gabriel sahen sich kalt an. Das Thema wurde nie mehr angesprochen.

 

„Ach, ist auch egal“, sagte Georg.

 

Michael sagte, nach einem langen Blick, den er mit Frau Beatus austauschte: „Ich mache neben der Hütte von Georg einen Schlafplatz.“ „Oh, fein“, sagte Gabriel, „dann darf ich bleiben. Das ist toll. Ich bin nämlich hundemüde und brauche jetzt eine Pause.“

 

Michael und Frau Beatus schauten sich an und zum ersten mal passierte das, was in den nächsten Tagen öfter passierte: Sie lachten laut. Irgendwie fühlten sich beide in frühere Zeiten versetzt, aber bei der Kräuterfee und bei Michael gab es damals keine Pausen. Und jetzt haben sie schon zwei, die Pausen brauchten. Doch was für ein wundersamer Tag: Zwei völlig unbekannte Menschen kamen und erkannten die Kräuter. Michael und Frau Beatus bewegte dies tief und sie wunderten sich selbst über die eigene Reaktion.

 

Frau Beatus murmelte mehr zu sich selbst: „Vorsicht, Vorsicht.“

 

Michael erinnerte sich an Vieles, was passiert war. Beide hatten Angst und beide freuten sich.

 

So ging dieser wundersame Tag zu Ende.

 

Die nächsten Tage vergingen und neben dem, dass die beiden Herren permanent Pausen brauchten und wenn der Tag zu Ende ging aufhörten zu arbeiten, hatten sie beide einen erstaunlichen inneren Bezug zu den Kräutern.

 

Die Pausen und das Aufhören des Arbeitens waren Michael und Frau Beatus völlig unbekannt. Aber diesen inneren Bezug zu den Kräutern kannten sie.

 

Georg roch diese und Gabriel sah und spürte diese.

 

Wenn es um die Kräuter ging halfen beide und Frau Beatus redete oft den ganzen Tag über Kräuter. Michael war wieder dabei Kräuter zu trocknen, aufzubereiten und Salben zu machen.

 

Abends fragte Michael plötzlich: „Was machen wir hier eigentlich? Für wen manchen wir das? Wer soll denn die Kräuter bekommen?“ und schaute Frau Beatus an.

 

„Das weiß ich auch nicht“, flüsterte diese zurück.

 

 

Der Felsen

 

Nach mehreren Tagen fragte Georg: „Was ist denn eigentlich oben auf dem Felsen?“

 

Michael riss die Augen auf und sagte: „Da bleibt ihr mir weg.“ Und Frau Beatus wandte sich ab. Knapp hatte Michael das ausgesprochen, hüpfte Georg zu dem Weg, der zum Felsen führte. Einige Stunden später kam er zurück.

 

Das heißt, er kam nicht, sondern er kroch den Weg zur Hütte. Er war verletzt, voller Schrammen und er blutete im Gesicht. Michael schaute zu Frau Beatus, die gerade Kräuter aus dem Wald brachte. Frau Beatus, ohne ein Wort zu verlieren, half Georg auf die Bank und versorgte die Wunden mit ihren Kräutern.

 

Gabriel war völlig entsetzt: „Was ist denn passiert? Was ist denn passiert?“ Georg röchelte: „Nichts, das sind nur meine Verletzungen, die mir das Leben verpasst hat.“ Man hörte Frau Beatus flüstern: „Georg, Du bist ja einer von uns.“

 

Gabriel schaute erbost und sagte: „Kann mir das, was hier passiert, mal einer erklären?“ Frau Beatus schaute auf und Michael raunte: „Du wolltest doch nach einigen Tagen gehen, oder?“ Gabriel stampfte mit dem Fuß auf den Boden und maulte: „Ach, Ihr seid alle doof“ und … marschierte schnurstracks den Weg zum Felsen hinauf.

 

Frau Beatus ging in ihre Hütte und nahm die notwendigen Kräuter. Sie wartete vor der Hütte.

 

Schluchzen und Schreien waren zu hören. Nach einiger Zeit sah man Gabriel den Weg vom Felsen hinunter laufen.

 

Arme und Beine waren völlig zerkratzt und im Gesicht war eine große Wunde sichtbar und glatte Panik war in seinen Augen. Er setzte sich neben Georg auf die Bank, schaute Frau Beatus an, die schon mit den Kräutern da stand. Gabriel fand noch die Kraft zu sagen: „Woher wussten Sie, dass ich verletzt wiederkomme?“ Sichtlich stand ihm die Panik im Gesicht. Frau Beatus zuckte nur mit den Schultern und verband seine Wunden.

 

In der Nacht sah man Michael wieder Wache schieben. Mit dem großen Schwert stand er so, dass er alle drei schützte.

 

Am frühen Morgen kam Frau Beatus aus der Hütte und sagte: „Michael“? Michael schaute sie lange an und sagte: „Ja.“

 

Frau Beatus sagte: „Gehst Du mit? Wir können die jungen Leute so nicht alleine lassen?“

 

Michael schaute sie an: „Geh’ Du, ich bleibe. Ihr braucht mich ja so. Ich weiß nicht, ob ich von oben zurück komme.“

 

Frau Beatus lächelte und legte ihre Hand auf die Schulter von Michael. Dazu musste sie auf den Zehenspitzen stehen und das fiel ihr schwer.

 

„Wir lassen sie schlafen, oder?“, sagte Michael. Frau Beatus sagte: „Ja, ja, die sind aus der neuen Welt.“ In dem Moment wachte Gabriel auf. Georg schlief offensichtlich sehr unruhig. Man hörte, wie er sich hin- und herwälzte und ein Stöhnen kam aus der kleinen, neuen Hütte. Gabriel dachte: „Das ist der Moment.“ Er stand auf und sagte: „Ich möchte hier bleiben.“ Michael sagte nichts, nahm die Axt und ging in den Wald, um für die vierte Hütte Holz zu machen.

 

 

Der Ort, an dem die Erinnerungen verletzen

 

Die vierte Hütte war gebaut und Gabriel ging es sichtlich besser. Er band sein elegantes Pferd hinter seiner Hütte an einen Baum und sagte plötzlich: „Komisch, seit ich auf diesem Felsen war, spüre ich die Kräuter noch besser.“

 

Georg, der mittlerweile wach war, sagte: „Ja, bei mir riechen sie anders.“

 

Gabriel und Georg schauten Frau Beatus fragend an.

 

Sie hatte Tränen in den Augen und sagte: „Ach, ihr jungen Leute, wenn ihr wüsstet, wie gescheit ihr seid.“

 

Frau Beatus lächelte die beiden jungen Leute traurig an und sie ging den Weg zum Felsen hoch.

 

Michael schaute ihr nach und er raunte Anweisungen.

 

Gabriel und Georg bereiteten ein Kräuterbett nach den Anweisungen von diesem Michael vor.

 

Michael sagte: „Jetzt keine Pausen.“ „Doch“, sagte Gabriel und Georg nickte heftig.

 

In diesem Moment hörten sie die Schreie. Frau Beatus hinkte den Weg vom Felsen hinunter. Ihr Gesicht war voller blauer Flecken. Sie hielt sich die Rippen fest und offensichtlich war ihr Arm gebrochen. Sie legte sich, ohne ein Wort zu sagen, auf das Kräuterbett und sagte: „Danke“.- 13 -

 

 

Gabriel und Georg schauten sich an und stammelten: „Ja, ja, klar, keine Pausen.“

 

Frau Beatus schloß die Augen und es dauerte eine Weile, bis sie diese wieder öffnete und sagte: „Wenn Ihr um die Kräuter wüsstet, aber Ihr wisst ja schon viel. Ich habe viel zu lange den Felsen vermieden. Dieser wunderbare Ort an dem die Erinnerungen verletzen lassen uns diese Kräuter tiefer erkennen.“

 

Gabriel schaute erstaunt: „Wieso weißt Du das?“

 

Georg antwortete ungefragt: „Genau, meine Erinnerungen haben mich verletzt und wieso konnte ich dann viel besser den Geruch der Kräuter riechen?“

 

Gabriel korrigierte: „Und vor allem sie besser spüren und sehen.“

 

Georg schaute Gabriel böse an und Gabriel hob die Schulter und sagte: „Pff!“

 

Frau Beatus lächelte: „Bitte lasst es. Beides geht. Der Weg zum Felsen ist mühsam. Vor langen Jahren entdeckte ich diesen Weg und so nannten mich die Leute irgendwann die Kräuterfee. Es wurde still. Alle saßen da mit ihren Verletzungen. Michael schaute auf die Kräuter.

 

Michael stellte sich in der Nacht auf und hielt Wache.

 

Von diesem Zeitpunkt an gingen Frau Beatus und die beiden Jünglinge Gabriel und Georg diesen Weg zum Felsen regelmäßig hoch.

 

Michael blieb unten.

 

Frau Beatus sagte immer: „Gehst Du nicht mit?“ „Nein“, sagte Michael mürrisch, „da gehöre ich nicht hin. Hier ist mein Platz.“ Frau Beatus ließ ihn dann in Ruhe.

 

Michael bereitete die Kräuterbetten jeweils vor. So entstanden, an diesem Ort, an dem die Erinnerungen verletzten, Kräuter mit erstaunlicher Kraft und Fähigkeiten.

 

Michael hatte mittlerweile wieder eine kleine Hütte gebaut, direkt hinter den anderen, in der ein Atelier entstand. Ein sehr simples und einfaches, nicht so wie früher. Aber so langsam platzte es aus allen Nähten.

 

Georg sagte eines Tages: „Komm, wir verkaufen jetzt diese Kräuter.“ Frau Beatus sagte: „Gerne, aber ihr müsst sie verkaufen.“ Gabriel sagte: „Oh, dann muss ich aber noch ganz viel lernen. Was kosten die? Was bringen die? Wie heilen die? Ist das nicht gefährlich?“

 

„Ach was“, sagte Georg, „hör’ doch auf mit Deiner Genauigkeit. Wir nehmen die Kräuter, gehen auf den Markt und es wird schon klappen.“

 

Gabriel antwortete nur: „Pff!“

 

Am nächsten Tag zogen beide los und kamen erst spät am Abend zurück.

 

Michael, einen Augenbrauen hochgezogen, fragte: „Wo ward Ihr so lange? Der Markt hat doch schon lange geschlossen.“

 

Gabriel und Georg sagten: „Ja, wir haben noch ein wenig Pause gemacht und dann waren wir noch im Ausschank, haben ein Bier getrunken und dann sind wir noch ein wenig durch die Stadt gehüpft und haben uns alles angeschaut.“

 

Frau Beatus und Michael lächelten. Die beiden haben Michael noch nie lächeln sehen. „Haben wir etwas falsch gemacht?“ Frau Beatus sagte: „Nein, nein, alles gut.“

 

Frau Beatus und Michael genossen irgendwie das Bier mit, was sie nicht getrunken haben. So etwas hatten sie noch nie gemacht.

 

An den nächsten Abenden standen Frau Beatus und Michael noch in den Kräutern. Georg und Gabriel waren schon lange schlafen gegangen, denn diese beiden waren sehr früh müde. Sie verstanden auch nicht, warum Michael und Frau Beatus sich nie auf die Bank setzten.

 

Michael hatte irgend etwas gebrummt wie: „Dann kommt man nicht mehr hoch, wenn man einmal da sitzt.“ Gabriel und Georg mussten darüber laut lachen.

 

Frau Beatus fragte Michael: „Sag’ mal Michael, was passiert uns hier? Dachtest Du, dass so etwas uns je wieder passiert?“ Michael antwortete: „Nein, das dachte ich nicht, aber ich spüre, dass es richtig ist.“ Michael flüsterte: „Die Kräuter, sie wirken wieder.“ Frau Beatus antwortete: „Ja“.

 

Frau Beatus fragte Michael weiter: „Michael, machen wir hier keine Fehler?“

 

Michael sagte: „Frau Beatus, wir beide haben zu viele Verletzungen. Zu vieles ist uns passiert. Wir werden beide misstrauisch bleiben. Doch schau’, was die mit den Kräutern machen. Die können’s.“

 

Frau Beatus sagte: „Ja, Du hast Recht Michael. Wir beiden müssen unsere Verletzungen hegen und pflegen.“

 

Michael sagte darauf sofort: „Nein, ich gehe nicht auf den Felsen.“

 

Frau Beatus war eine Weile still: „Michael, das ist in Ordnung“, antworte sie. Ich mache dann das für Dich mit.“

 

Michael stammelte irgend etwas, was Frau Beatus nicht mehr verstand.

 

 

Der Ort an dem die Erinnerungen verletzen: Jahrzehnte später

 

Der Touristenführer war am Ende seiner Geschichte.

 

Es war mucksmäuschenstill bis ein Kind fragte: „Herr Touristenführer, Herr Touristenführer, darf ich da jetzt auch hoch? Ich möchte auch, ich möchte auch …“

 

Sein Vater sagte herrisch: „Nein, nein, da bleibst Du mir weg.“

 

„Nein, ich möchte …“ und schwuppdiwupp war das Kind unterwegs und lief diesen Weg hinauf.

 

Der Vater wollte nachlaufen, doch der Touristenführer nahm ihn fest beim Arm und der Vater blieb stehen.

 

Kurz danach kam das siebenjährige Kind den alten Felsenweg herunter. Es hatte ein verweintes Gesicht, einen kleinen Kratzer am Arm und es weinte noch sehr. Es setzte sich hin, da wo früher diese Hütten standen, nahm eine belanglose Pflanze in seine Hand, schluchzte noch einmal und roch daran.

 

Der Touristenführer sagte: „Meine Damen und Herren, das ist doch alles nur eine alte Legende. Machen Sie sich keine Sorgen.“

 

Der Vater lief zu seinem Kind und setzte sich zu ihm hin. Er sagte: „Ja, ich werde besser für Dich sorgen, mein Kind.“

 

Der Touristenführer sagte etwas zu laut: „Wir gehen jetzt dann zurück.“

 

 

 

 

 

 

Für die alte Schatulle, die Kirmesfrau und die Baronin.

 

 

In tiefster Verbundenheit

 

jd

 

 

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