Die neurotischen Psychologen oder die Gesundheit mancher Kunden

Auch hier möchte ich von der Begebenheit mit einem Kunden berichten, die schon lange Jahre zurückliegt.

Wir hatten den Auftrag, für eine kleine Abteilung eines großen Unternehmens am Rheingraben eine Mannschaft von 10 höchst qualifizierten Menschen zu diagnostizieren und ihnen Hilfe zur persönlichen Weiterentwicklung zu geben.

Es war eigentlich der Traumjob, von dem jeder begeisterte ehemalige Therapeut träumt, der mittlerweile durch und durch ein Arbeits-, Betriebs- und Organisations-Psychologe geworden ist: Diagnostisches Setting im arbeits-. betriebs- und organisationspsychologischen Bereich und Veränderungsmultiplikation dieser Menschen.

Wir führten jeweils zu zweit Interviews durch und machten unsere Testdiagnostik. Alles funktionierte ganz gut, bis eines Tages ein spezieller Mensch zu uns kam, den wir interviewten. Ab einer gewissen Zeit bat ich um eine Pause, schickte den Menschen wieder an seinen Arbeitsplatz und sagte, wir würden uns heute wieder melden.

Der Grund hierfür war, dass ich das Gefühl hatte, er würde uns irgend etwas verheimlichen.

Ich diskutierte gemeinsam mit der Kollegin darüber, die das ebenso empfand, woraufhin sich eine rege Diskussion entwickelte, wie dieser Mensch zu knacken sei.

Nach geraumer „Knackdiskussion“ fiel mir plötzlich noch eine weitere Möglichkeit ein: Was, wenn es gar nichts zu knacken gäbe, wenn der Mann schlicht und einfach kerngesund wäre, geborgen aufgewachsen, höchst intelligent? Manches sprach dafür: Promotion in Physik mit 26 Jahren, glücklich verheiratet, zwei Kinder. Er hatte berichtet von einem geborgenen Elternhaus, die elterliche Botschaft war, „mache etwas aus deinem Leben, wir sind für dich da“, und als wir uns beide auf diese Perspektive einließen, kamen wir zu dem Schluss, er könne tatsächlich kerngesund sein. Da saßen wir beiden Psychologen nun, mit unserem Wissen, mit unseren Fähigkeiten, die häufig auf dem Mist früherer Jahre gewachsen sind, vor einem gesunden Menschen. Uns plagte Ungläubigkeit darüber, dass es so jemanden gibt und wir fühlten uns sehr unvollkommen.

Nach dieser Diskussion baten wir unseren Ansprechpartner wiederum zum Gespräch, nach dem wir ausgemacht hatten, ihn direkt zu fragen, was er selbst von seiner Gesundheit hielt. Und prompt bekamen wir die Antwort: „ Ich denke, ich bin ein sehr gesunder Mensch und hatte bisher viel Glück in meinem Leben. Mir geht es richtig gut.“

Die Moral von der Geschichte ist diesmal zweischichtig:

a. Auch wenn wir Psychologen den geschärften Blick für den neurotischen Teil dieser Welt haben, und das sollten wir auch, so sollten wir nie vergessen, dass es zwar statistisch selten, aber dennoch möglich ist, dass wir Menschen begegnen, die schlicht und einfach kerngesund sind. Hier ist Misstrauen nicht angebracht.

b. Als wir ein paar Tage später diese Begebenheit verdaut hatten, mussten wir herzlich über uns selbst lachen: Die verknoteten Psychologen, völlig hilflos vor Gesundheit. Nicht weil ich viel über angeknackste Seelenzustände gelernt habe, muss das auch für alle Menschen gelten. Seien wir vorsichtig mir unseren Projektionen und lassen dankbar auch andere Menschen richtig gut leben.

 

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